"Zuwenig Angebote"

■ Interview mit der Dozentin Dr. Gudrun Doll-Tepper über Defizite beim Behindertensport / Gesellschaftlicher Impuls

Schon als Studentin hat Dr. Gudrun Doll-Tepper 1968 ein Projekt über Behindertensport an der FU initiiert. Seit dem Sommersemester 1972 bietet sie dazu an der FU regelmäßige Lehrveranstaltungen an und unterrichtet auch am Europastudiengang Behindertensport, der seit 1991 besteht.

taz: Frau Doll-Tepper, wo sehen Sie Defizite im Berliner Behindertensport?

Gudrun Doll-Tepper: Für Kinder und Jugendliche ist bisher zuwenig getan worden. Das beginnt schon in der Schule. Beim Schulsport müssen behinderte Kinder stärker miteinbezogen werden. Das ist die Voraussetzung dafür, daß die Kinder motiviert sind, auch in ihrer Freizeit Sport zu treiben. Was auch fehlt, sind wohnortnahe Sportangebote. Es gibt zuwenig Spiel- und Sportangebote, die ein behindertes Kind ohne lange Fahrzeiten wahrnehmen kann.

Nehmen behinderte SchülerInnen nicht am Sportunterricht teil?

Es ist nicht immer so, daß die behinderten Kinder in Integrationsklassen am Sportunterricht teilnehmen. In Einzelfällen werden sie von Krankengymnasten speziell betreut. Zum Teil liegen auch Atteste zur Befreiung vom Sportunterricht vor. Ziel ist aber, daß die behinderten Schüler am Sportunterricht teilnehmen, und mehrere Schulen haben mit ihren Sportlehrern versucht, entsprechende Konzepte zu entwickeln.

Wie kann man die Schüler für Sport motivieren?

Es liegt schon daran, daß Sport für Behinderte in der Ausbildung von Sportlehrern sowenig berücksichtigt wird. Den Sportlehrern, die eine gemischte Klasse oder an einer Schule für Körperbehinderte unterrichten, fehlt es an Qualifikation. Deshalb fehlt auch ein vielseitiges Angebot, das diesen Schülern den Zugang zum Sport ermöglichen würde. Es ist auch wichtig, daß Eltern mehr informiert werden, welche sportlichen Möglichkeiten ihre Kinder haben. Auch die Universitäten müssen dafür sorgen, daß die Ausbildung für zukünftige Sportlehrer verbessert wird. Derzeit wird an unserem Fachbereich diskutiert, ob die Lehrveranstaltung zum Behindertensport Pflichtfach wird. Auch die Sportverbände müssen diesen Aspekt bei ihrer Ausbildung von Übungsleitern und Trainern stärker berücksichtigen.

Was tun die Sportverbände für den Behindertensport?

Im Breitensport existieren viel mehr integrative Bewegungs- und Sportangebote als noch vor zehn Jahren. Es gibt inzwischen viele Sportgruppen, die Kinder oder Erwachsene mit ganz unterschiedlicher Leistungsfähigkeit aufnehmen. Da hat sich was getan.

In den letzten Jahren hat sich ein Teil des Behindertensports zum Leistungssport entwickelt. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Ich halte es für sehr wichtig, daß Menschen, die behindert sind, die gleichen Möglichkeiten haben, sich für den Leistungssport zu entscheiden, wie alle anderen auch. Auch auf die Gefahr hin, daß sie sich zusätzliche Schäden zufügen. Das tun die anderen auch. Wie andere Sportler, die stundenlang trainieren, haben Rollstuhlsportler, die Marathon trainieren, häufig chronische Veränderungen an den Schultergelenken. Man kann dem Leistungssport kritisch gegenüberstehen. Wenn man ihn als ein gesellschaftliches Phänomen ansieht, dann müssen auch Behinderte diese Wahlmöglichkeit haben.

Was erhoffen Sie sich von der Weltmeisterschaft?

Die Gefahr ist, daß man nach dem Großereignis Leichtathletik- Weltmeisterschaft wieder zur Tagesordnung übergeht. Ich hoffe, daß das eine längerfristige Wirkung hat, bestehende Defizite erkannt und angegangen werden. Ich erhoffe mir aber auch über den Sport hinaus Impulse. Die Bevölkerung sieht, Behinderte sind nicht nur immer hilfsbedürftig, sondern das sind sehr selbstbewußte Leute, die Leistung bringen wollen, und das ist eine entscheidende message für die Akzeptanz von Behinderten in dieser Gesellschaft. Interview: Dorothee Winden