Der kleine Unterschied

■ Heute beginnt in Berlin die erste Leichtathletik-Weltmeisterschaft der Behinderten

Berlin (taz) – „Behinderten- Leistungssport ist Leistungssport“, sagt der Präsident des Deutschen Behindertensport-Bundes (DBS), Reiner Krippner. Mehr noch. Hartwig Stock: „Da stimmt das Preis-Leistungsverhältnis.“ Stocks Arbeitgeber ist das Bundesministerium des Innern (BMI) und Hauptsponsor des Leistungssportes der Behinderten. Völlig unfreiwillig: Denn finanzpotente Manager finden an Krippners These nicht so rechten Gefallen und halten ihre Taschen eher verschlossen.

Das BMI und mithin der Steuerzahler haben hingegen in diesem Jahr 4,9 Millionen Mark lockergemacht: 2,2 Millionen wie jedes Jahr. Und 2,7 Millionen für die Austragung der ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin, bei der 1.117 Athleten aus 63 Nationen in fünf Gruppen (Amputierte, Querschnittsgelähmte, spastisch Gelähmte, Blinde und Sehgeschädigte sowie Lernbehinderte) und 29 Schadensklassen um 247 Weltmeistertitel laufen, springen und werfen. Zu den 2,7 Millionen kommen rund 1,3 Millionen an Sach- und Personalleistungen – Soldaten kochen, bauen Zelte auf, übernehmen den Fahrdienst. Der Berliner Senat stiftet zusätzliche 2,2 Millionen. Macht ein Budget von 6,1 Millionen. – Private Sponsoren fehlen fast gänzlich (200.000 Mark Bares und 500.000 Sachmittel konnten die WM-Organisatoren auftreiben), TV-Kameras in der Regel auch. Was Wunder, wo Telegenität von Sportarten und Sportlern über Einschaltquoten und damit über die Wa(h)re Leistung bestimmt, sehen beinamputierte Sporttreibende einfach noch schlechter aus als moderne fünfkämpfende Athleten. Da nützt es wenig, daß Hartwig Stock holzhammer-eloquent behauptet: „Wenn man oben was reinsteckt“, besagte Millionen, „kommt unten was raus“: Medaillen in Hülle und Fülle wie bei den Paralympics in Lillehammer.

Die Norm ist das Problem, weil Maß aller Dinge

Nicht jeder, der mit Behinderten und Sport zu tun hat, reklamiert die Gleichberechtigung derart nüchtern kostenneutral. Jürgen Klemann, Berlins weitgereister und mitunter rückwärtsgewandter Sport-Senator, fährt auf der sattsam bekannten Gefühlsschiene, welche die betroffenen Funktionäre mit ihrem steten Pochen auf Gleichberechtigung so gerne stillgelegt hätten: „Wer in den Behindertensport investiert, sorgt für ein wärmeres Klima in dieser Gesellschaft.“ Ebenso appelliert Martin Kuder, der die PR-Arbeit für die WM übernommen hat, ans soziale Gewissen: „Es ist doch viel lohnender, sich hier zu präsentieren als bei einem Tennis-Turnier der Millionäre.“

Man tut sich schwer mit Behinderten im Spitzensport. Zuviel Gefühl schafft Mitleid, zuwenig den Wunsch nach Gleichberechtigung, der die Realitäten aber verkennt. Da mag Hartwig Stock noch so flehen – „Bitte schreiben Sie bei der WM der Behinderten ausschließlich über deren Sport!“ – und Bundesinnenminister Manfred Kanther zitieren: „Es gibt keinen Unterschied zwischen Paralympics und Olympischen Spielen.“ Es gibt ihn eben doch, den kleinen Unterschied. Vor allem im Spitzensport. Vor allem in einer Erfolgs- (nicht Leistungs-)gesellschaft. Wie sonst ist zu erklären, daß ein Carl Lewis allemal populärer bleiben wird als der Rollstuhl-Weltmeister über 100m, selbst wenn dieser jemals schneller sein sollte?

Kann nach herkömmlichem Verständnis spitze sein, wer behindert ist? „Das Wort gefällt mir nicht“, gesteht Jürgen Klemann, „handicapped hört sich doch gleich viel besser an.“ Es mag ja sein, daß der oberste Sportpolitiker Berlins mit Handicap allenfalls den Golfplatz assoziert. Aber ihm entgeht dabei, daß es auch handicapped people nur geben kann, wenn Non- handicapped die Norm sind.

Das Normale ist das Problematische für behinderte Sportler, weil es das Maß aller Dinge ist. Die „wichtigste Veranstaltung des Jahres in Berlin“ (Manfred von Richthofen, Präsident des Berliner Landessportbundes) aber erfordert eine Sonderbehandlung: Im Olympiastadion muß „behindertengerecht“ (Klemann) angebaut werden: Rampen für Rollstühle, niedergelegte Toiletten (angemietet!), entsprechende Umkleide- Kabinen (in Zelten!). Alles provisorisch, weil behinderte Sportler im sportlichen Alltag nicht vorgesehen sind.

Eine halbe Million kostet die temporäre Baumaßnahme im Stadion. Eine Rundumerneuerung, die behinderten Sportler und Zuschauern auch über das zehntägige Gastspiel hinaus das Benützen des Olympiastadions gestattete, würde 200 Millionen verschlingen. In der vier Millionen-Metropole gibt es ein einziges Hotel, das „behindertengerechte“ Zimmer offeriert. Manchmal scheint die Gleichbehandlung so groß, daß der kleine Unterschied ganz in Vergessenheit zu geraten scheint. Cornelia Heim