Ständig neue Stammtische

■ Heute wäre Oskar Maria Graf, der "Provinzschriftsteller", 100 geworden

„Immer häufiger verbreitet sich Verlegenheit in der Runde, wenn der Wunsch nach einer Geschichte laut wird. Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien [...] von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen.“ Die berühmten Sätze, die Walter Benjamin in seinem Lesskow-Aufsatz geschrieben hatte, treffen sicher noch zu. Nur wirkt das, was bei ihm Erschrecken auslöste, heute wie ein Allgemeinplatz, über den zu sprechen inzwischen peinlich scheint.

Oskar Maria Graf, der heute hundert Jahre alt geworden wäre, ist einer der letzten großen deutschsprachigen Erzähler gewesen; einer, der die vorindustriellen Überbringer von Geschichten „besonders gerne“ hatte, ein „Provinzschriftsteller“, der fast die Hälfte seines Lebens im New Yorker Exil verbrachte, ein Internationalist, der keine Fremdsprachen konnte, ein biertrinkender Anarchist in Lederhosen, der einen „Verein für mittelmäßige Schriftsteller“ gründen wollte und „ohne Zuhilfenahme von Philosophie und Gescheitheit“ nur über Erlebtes und Gehörtes schrieb; „denn Zurechtgedachtes wird immer vom Lebendigen zerstört“. Als zweitjüngster Sohn eines Bäckers, zwischen sieben Geschwistern erleidet er eine bedrückende Kindheit in seinem Heimatdorf Berg am Starnberger See, flieht 1911 nach München, um Schriftsteller zu werden, ernährt sich mit wechselnden Hilfsarbeiterjobs, gerät in die Schwabinger Boheme, befreundet sich mit Franz Jung, dem er „buchstäblich geistig hörig“ wurde, wird eher zufällig Schriftführer der Gruppe „Tat“ des „Sozialistischen Bundes“, veröffentlicht 1914 erste expressionistische Gedichte in der Aktion. Nach einem Jahr an der Ostfront entgeht er dem Schlachten im Ersten Weltkrieg, indem er den Idioten spielt. Ende 1916 wird er für „dienstunbrauchbar“ erklärt und für zehn Monate in die Irrenanstalt gesteckt. Nach dem Krieg betätigt er sich als Schieber, beginnt Bücher zu rezensieren, die er teilweise gar nicht gelesen hat, veröffentlicht Manifeste, Schnurren und erste Erzählungen, erlebt als unvorbereiteter Redner einer Veranstaltung „gegen den Terror“ ein Debakel, engagiert sich als Gefühlssozialist für die Münchner Räterepublik, wird nach dem Sieg der Konterrevolution verhaftet und auf Fürsprache unter anderem von Rilke wieder freigelassen. In den zwanziger Jahren steht der extrem kommunikative Graf im Mittelpunkt der Münchner Boheme. Überall spricht man von seinen wilden Atelierfesten.

Zufällig lernt er in einer Münchner Garküche Hitler kennen, der 1923 mit seinem Putsch scheitern sollte. Nachdem der malende Führer den Dichter stundenlang mit „nationalistischem Ehrengesums und Rassengewäsch“ eingedeckt hatte, verlangte Graf, er solle ihm das Essen bezahlen: „Ja glauben Sie vielleicht, ich hör mir Ihren Quatsch stundenlang umsonst an.“

Der literarische Durchbruch gelingt Graf 1927 mit der Autobiographie „Wir sind Gefangene“, einem großartigen Pendant zu Glasers „Geheimnis und Gewalt“ und Jungs zynisch-stilisiertem „Weg nach unten“, dem in der deutschsprachigen Literatur vielleicht nur „Anton Reiser“ zur Seite gestellt werden kann. Finanziell reüssiert er mit dem „Bayerischen Dekameron“, das das Graf-Bild leider bis heute prägt. Fette Jahre folgen, die 1933 jäh unterbrochen werden.

Kaum zwei Wochen nach der Machtergreifung geht der „Provinzschriftsteller“ ins Exil. Am 12. Mai 33 veröffentlicht er in der Wiener Arbeiter Zeitung seinen wohl meistgelesenen Text „Verbrennt mich“, mit dem er darauf reagierte, daß die Nazis seine Bücher für unbedenklich hielten. Brecht, dessen „Trommeln in der Nacht“ Graf als Dramaturg der Münchner „Neuen Bühne“ noch abgelehnt hatte, wird ihm eins seiner „Svendborger Gedichte“ widmen: „Als das Regime befahl, Bücher mit schädlichem Wissen/ Öffentlich zu verbrennen, und allenthalben/ Ochsen gezwungen wurden, Karren mit Büchern/ Zu den Scheiterhaufen zu ziehen, entdeckte/ Ein verjagter Dichter, einer der besten, die Liste der/ Verbrannten studierend, entsetzt, daß seine/ Bücher vergessen waren. Er eilte zum Schreibtisch/ Zornbeflügelt, und schrieb einen Brief an die Machthaber. / Verbrennt mich! schrieb er mit fliegender Feder, verbrennt mich!/ Tut mir das nicht an! laßt mich nicht übrig (...)“

Bis 1937 lebt Graf vor allem in der Tschechoslowakei. In Exilverlagen veröffentlicht er zum Teil extrem gewalttätige Dorfgeschichten, engagiert sich für eine Volksfront, besucht 1934 für zwei Monate die Sowjetunion (den Sowjetmenschen fand er „optimistisch und heiter, merkwürdig geheimnisvoll und dennoch tief skurril“), befreundet sich unter anderen mit Babel, Tretjakow und Pasternak, die später allesamt dem stalinistischen Terror zum Opfer fallen werden, veröffentlicht 1936 den Roman „Der Abgrund“, der mit der wankelmütigen Sozialdemokratie abrechnet, und flieht 1938 nach New York. In der „Diaspora“ ist Graf fünf Jahre lang als Leiter eines „Schutzverbandes Deutsch- Amerikanischer Schriftsteller“ tätig und gründet ständig neue Stammtische.

Nach Kriegsende, als viele der Emigranten zurückkehren, wird er vergessen. Ein „aufgehörter Schriftsteller“ (Tucholsky), für den sich kaum noch jemand interessierte und der – selbst unsicher

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geworden – daranging, seine alten Romane umzuschreiben; ein Heimatloser, der sich mehrmals vergeblich in der finstersten McCarthy-Ära bemühte, amerikanischer Staatsbürger zu werden, der beim FBI als „einer der deutsch-kommunistischen und internationalen Kominternführer“ denunziert wird und dem in Verhören selbst Stellungnahmen zugunsten der Befreiung Niemöllers vorgeworfen werden. Obgleich er sich als konsequenter Pazifist weigerte, den vorgeschriebenen Eid abzulegen, der ihn zur Verteidigung des Landes „gegen jeden äußeren und inneren Feind“ verpflichtet hätte, bekommt er 1957 die amerikanische Staatsbürgerschaft.

1958 besucht Graf zum ersten Mal nach 25 Jahren wieder Deutschland, das er als „satt, arrogant und von einer literarischen und politischen Frechheit“ empfand, die „ankotzt“. Es gibt einen ziemlichen Skandal um den Dichter, der ohnehin schon suspekt war, weil er sowohl in West- als auch in Ostdeutschland veröffentlichte. Empört ist man vor allem darüber, daß er im frisch restaurierten Münchner Cuvillstheater in Lederhose las.

Graf, kompromißloser Parteigänger aller Unangepaßten, lebte ein exzessives Leben gegen sich und seine Freunde. Saufereien, selbstzerstörerisches Kettenrauchen, ohne das er nicht arbeiten kann, und zahlreiche Liebesaffären, die er immer gerne stilisierte, sind Legende. Bis zu seinem Tode im Juni 1967 engagierte er sich. Wütend wetterte er gegen den Vietnamkrieg, diesen „gemeinsten, niederträchtigsten aller Kriege“, schrieb an den Papst, den er darum bat, all die zu exkommunizieren, die Kriege verantworten oder an ihnen teilnehmen. Als Anarchist will er nicht nur den Staat, sondern alles abgeschafft sehen, was uns niederhält: „Moral, Anständigkeit, Ehre, Vaterland, Gott, Religion und wie der ganze Mist sonst heißt“.

Ideologe war Graf nie. Doch im Gegensatz zu seinem Freund Franz Jung, der zwischen Misanthropie und Torpedokäferkitsch seine Zuflucht fand, hielt er die zerreißendsten Widersprüche aus. Sein vielleicht bestes Buch, der autobiographische, oft unterschätzte Emigrantenroman „Die Flucht ins Mittelmäßige“ berichtet davon.

„Sie haben so eine gute, warme, gewinnende Art zu schreiben“ schrieb Thomas Mann, über den, der am Ende seines Lebens anonym sentimentale Gedichte veröffentlichte und nur noch „ein lustiger Wirtschaftsunterhalter“ werden wollte – „sonst nichts“.

Die Würdigungen zu seinem Hundertsten werden so sein, wie sie Sepp Bierbichler bereits in seiner Rede zum neunzigsten Geburtstag Grafs beschrieb: „Die Sprengmeister fingern an den Zündern seiner Bücher – sie entschärfen ihn, indem sie von seiner Brisanz reden.“ Detlef Kuhlbrodt

Die Gesamtausgabe von Oskar Maria Graf ist im List-Verlag erschienen; eine hervorragende Biographie gibt es bei dtv