■ Das Verhalten der Regierung Bangladeschs als Skandal: Immer noch schwebt Schriftstellerin Nasrin in Lebensgefahr
: Eine Warnung an uns alle

Am liebsten würde uns die Regierung von Bangladesch glauben machen wollen, daß die Autorin Taslim Nasrin der Todesdrohung islamischer Extremisten nicht entgehen könne. Nasrin, eine 32jährige Feministin, deren Werk konservative Bangladescher erzürnt hat, hält sich immer noch vor jenen Fanatikern versteckt, die 10.000 Dollar auf ihren Kopf ausgesetzt haben. Die Regierung ist weit davon entfernt, sie zu beschützen. Statt dessen sucht man sie, damit man sie unter Anklage stellen kann wegen Beleidigung der Religion. Noch letzte Woche wies der Botschafter Bangladeschs in den USA die Behauptung zurück, daß seine Regierung mit der Anklage Nasrins vor den Fundamentalisten kapituliere. Er konzidierte, daß es vermehrt Stimmen in seinem Land gebe, die die Todesstrafe für Blasphemie forderten, und gab ferner zu, daß seine Regierung offensichtlich ein solches Gesetz in Erwägung zieht.

Jene Fundamentalisten, deren Wirkungskraft in der islamischen Welt ständig wächst, verteidigen ihre Haltung gegenüber Nasrin mit der Behauptung, sie wollten nur die Reinheit ihres Glaubens aufrechterhalten. Tatsächlich hat der Islam sehr schön die letzten 1.300 Jahre überlebt, ohne je eine Todesstrafe für Blasphemie zu brauchen. Und sicherlich erfährt der islamische Glaube mehr Gefahr durch die Exzesse seiner Glaubensritter als durch Nasrins literarische Indiskretionen.

Sei es in Bangladesch oder sonstwo: die Islamisten suchen nicht die Reinheit der Lehre, sondern wollen politische Macht. Von anderen Parteien unterscheiden sie sich nur durch die Ausbeutung der Religion. Im Gegensatz zur Toleranz, die im Koran lebt, haben sie ihre eigene Doktrin entwickelt und nennen sie schlicht den „wahren“ Islam. Selbstgerecht und voll bösen Geistes zieht sich durch ihn ein roter Faden der Gewalt, die die islamische Gesellschaft zu unterminieren droht.

Diese Gewalt richtet sich nicht nur gegen den Körper. Es ist ein Terrorismus gegen den Geist, der versucht, die islamische Gesellschaft in jenen intellektuellen Hinterhöfen zu belassen, in denen sie für Jahrhunderte stagnierte.

1992 wurde Faraq Forda von Extremisten getötet, einer der kreativsten islamischen Denker Ägyptens. In Algerien wurden Wissenschaftler und Lyriker umgebracht, in der Türkei ist der Gegner offensichtlich der Journalismus. Der „Erfolg“ läßt sich auch am Schweigen muslimischer Intellektueller im Falle Nasrins ermessen – wie zuvor bei Rushdie.

Ohne Zweifel war für viele Moslems die säkulare Politik, die so viele Fundamentalisten heute attackieren, eine Enttäuschung. In den Jahrzehnten nach der Dekolonisation waren die Regierungen der islamischen Welt von den Problemen der Unterentwicklung bei gleichzeitiger Überbevölkerung paralysiert. Hinzu kam die eigene Inkompetenz und Korruption. Die Suche nach einer neuen Vision ist offensichtlich. Schnell haben die Fundamentalisten zwar diese Chance genutzt, doch was brachten sie zustande außer der Parole „Der Islam ist die Antwort“? Sie haben kein ökonomisches Programm, und während sie freie Wahlen einklagen, geben sie zu, sofort nach Machtübernahme alle demokratischen Strukturen zu unterdrücken. Die Gesellschaft müsse Taslim Nasrins Impertinenz bestrafen, sagen sie. Aber würde sich in Bangladesch, das lange für seine unglaubliche Armut bedauert wurde, mit Nasrins Tod irgend etwas ändern?

Der Botschafter Bangladeschs meinte, was sein Land mit Nasrin tue, würde die Welt nichts angehen. Doch die UNO-Deklaration zu den Menschenrechten, die internationale Standards repräsentiert, besteht auf Nasrins Recht auf Gedanken- und Meinungsfreiheit. Die Welt kann nicht akzeptieren, daß über den Menschenrechten eine krude Interpretation islamischen Gesetzes stehe.

Einige Islamisten haben behauptet, daß der Westen seit dem Niedergang des sowjetischen Reiches im Fundamentalismus ein neues Feindbild suche. Doch der Konflikt, um den es hier geht, dreht sich nicht um die Religion oder deren Interpretation. Es geht darum, daß die Praktiker extremistischer Doktrinen begonnen haben, barbarische Akte – wie etwa den Mordaufruf gegen Nasrin – zu rechtfertigen.

Der Schaden, den dieser Extremismus anrichtet, ist nicht auf die muslimische Welt begrenzt. Menschenrechte und Demokratie sind in Dutzenden von Ländern nur unklare Optionen. Ein triumphanter islamischer Extremismus kann einen weltweiten Aufstieg des Terrorismus bewirken. Die Bedeutung des „Nasrin-Falles“ geht weit über die Grenzen Bangladeschs hinaus. Es ist eine Warnung an uns alle. Milton Viorst

Autor von „Sandcastles: The Arabs in Search of the Modern“ (1994); ein Buch über den Islam ist in Vorbereitung;

aus: Los Angeles Times vom 20.7.; Übersetzung: AS