■ Warum das Europaparlament in Straßburg nach heftigen Debatten nun doch den Kompromißkandidaten wählte: Mehr Mut als je zuvor: Ja zu Santer, nein zu Kinkel
Das Europaparlament beginnt, sich selbst ernst zu nehmen. Das hauchdünne Ergebnis für den Luxemburger Premierminister Jacques Santer war mehr als ein deutlicher Schuß vor den Bug des Ministerrates. Fast die Hälfte der Abgeordneten war ganz offensichtlich bereit, für ihre Überzeugung einen Konflikt mit dem übermächtigen Ministerrat zu riskieren.
Noch vor zwei Tagen sah es so aus, als ob vor allem den Sozialdemokraten doch noch der Mut fehlen würde, gegen Jacques Santer als Nachfolger für Jacques Delors auf dem Chefsessel der Europäischen Kommission zu stimmen. Wir wollen Santer nicht, wir halten ihn für den falschen Mann, hieß es, trotzdem werden wir mit einem „Ja, aber...“ stimmen. Mit dem Aber sollten Bedingungen für die weitere Kommissionsbesetzung gestellt werden, zum Beispiel eine Frauenquote.
Doch die ewigen Selbstbeteuerungen der Abgeordneten, das Parlament habe seit Maastricht mehr Rechte, zeigte in den letzten Tagen offenbar Wirkung. Irgendwann konnten auch die hartnäckigsten Verfechter eines Schmusekurses die Frage nicht mehr beantworten, warum sie für einen Kandidaten stimmen wollen, den sie nicht wünschen.
Die Stimmung verfestigte sich noch, als Santer bei den Anhörungen vor den beiden großen Fraktionen der Sozialisten und der Konservativen immer wieder betonte, er habe sich nicht um die Kandidatur beworben. Er sei nur gefragt worden und habe, pflichtbewußt, wie er eben sei, akzeptiert.
Selbst in den konservativen Parteien zeigten viele Abgeordnete Bauchschmerzen, einen solch unentschlossenen Kandidaten zu unterstützen. Doch die Kritik richtete sich zunehmend gegen den Ministerrat, in erster Linie gegen Kanzler Kohl und den britischen Premier John Major. Gegen Major, weil er mit seinem rein innerparteilich motivierten Veto gegen den belgischen Premier Jean-Luc Dehaene die gesamte Europäische Union zu einem Kompromißkandidaten gezwungen hat. Gegen Kohl, weil er als derzeitiger EU- Ratspräsident dem Parlament einen solchen Kompromißkandidaten zumutete.
Gestern morgen schlug die Stimmung dann endgültig um. Nach einer soliden Vorstellung seiner Reformpläne für die Kommission, vor allem aber nach seiner zweiten, einer richtig kämpferischen Rede zu seiner Kandidatur, betonten fast alle Redner im Parlament, daß die Zweifel an den Fähigkeiten Santers ausgeräumt seien.
Den endgültigen Umschwung erreichte dann Bundesaußenminister Klaus Kinkel. Seine Warnung, eine Ablehnung Santers würde die Europäische Union in eine schwere Krise stürzen und den Wählern die Verantwortungslosigkeit des Parlaments vor Augen führen, gab Anlaß zu lautstarken Protesten. Seine Friß- oder-stirb-Rede brachte Stimmung in die Bude. Selten hat man Europaabgeordnete so für ihre verbrieften Rechte der Mitentscheidung streiten hören.
Beifall für Santer und Proteststürme für Kinkel, deutlicher hätten die Abgeordneten nicht klarmachen können, gegen wen sich die Neinstimmen richten. Für Santer hat das den Vorteil, daß er auch mit dem knappen Votum leben kann. Er darf davon ausgehen, daß er im Europaparlament mehr Zustimmung hat, als das Abstimmungsergebnis aussagt. Die deutsche Ratspräsidentschaft und der gesamte Ministerrat können sich darauf einstellen, daß die Abgeordneten ihre Rechte nicht nur deklamieren, sondern einfordern und dafür auch vor einem Konflikt nicht zurückschrecken. Das neue Europaparlament hat sich bei seiner ersten Sitzung mehr Mut gemacht, als das alte je hatte. Alois Berger, Straßburg
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