■ Die BundesverfassungsrichterInnen sind nicht weiser als die Gesellschaft, deren Teil sie doch sind
: Aus mit der Jahrhundertchance?

Im Namen des Volkes! Das Gericht hat gesprochen. Das Urteil ist gefällt: „Artikel 24 Absatz 2 Grundgesetz berechtigt den Bund nicht nur zum Eintritt in ein System gegenseitiger Kollektiver Sicherheit... Er bietet vielmehr die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen Aufgaben!“

Im Klartext: Auch die Bundeswehr kann im Rahmen Kollektiver Sicherheit überall auf der Welt eingesetzt werden – auch für kriegerische Maßnahmen.

Ich meine, diese Entscheidung ist mit Blick auf das Grundgesetz zu Recht gefällt. Auch die Sozialdemokraten müssen lernen, daß derjenige, der Beistand will, bereit sein muß, auch selbst Beistand zu leisten. Jedenfalls hatten die Abgeordneten des Herrenchiemseer Konvents und des Parlamentarischen Rates gerade dieses im Sinn, als sie 1948/49 die Idee der Kollektiven Sicherheit diskutierten. Sie wollten also gerade keinen Militärpakt schaffen, sondern ein System gemeinsamer Sicherheitsvorsorge, das sich gegen keinen konkreten Feind richtet, gleichwohl aber eine automatische Beistandsverpflichtung zugunsten jeglichen Aggressionsopfers kennt.

Allerdings: Als 1949 das Grundgesetz verabschiedet wurde, war weder ein Wehrverfassungsteil noch die Bundeswehr vorgesehen. Beides wurde erst sehr viel später, nämlich 1954 und 1956, auf den Weg gebracht. Dagegen enthielt das Grundgesetz bereits 1949 eine Vielzahl von Normen, die als Friedensgebot dem Grundgesetz einen nahezu einmaligen Charakter gaben. Zu diesen Normen gehören die Präambel, Artikel 1 Absatz 2, Artikel 4 Absatz 3, Artikel 9 Absatz 2, Artikel 24, Absatz 1, 2 und 3, Artikel 25 sowie Artikel 26 Absatz 1 und 2 Grundgesetz.

Hieraus folgt zweierlei:

Zum einen verlangt die Mitgliedschaft in einem System Kollektiver Sicherheit nicht unabdingbar die Existenz von militärischen Streitkräften. Beistand kann auch mit anderen als militärischen Mitteln geleistet werden. Der Umkehrschluß besagt aber wiederum: Existieren Streitkräfte, so kann deren Einsatz in einem System Kollektiver Sicherheit nicht ohne den Vorwurf der doppelten Moral auf den eigenen Bedarf beschränkt bleiben.

Zum anderen folgt aus dem erwähnten Friedenscharakter der Verfassung, daß Kollektive Sicherheit eben nur ein Element unter anderen, Artikel 24 Absatz 1 nur eine Norm aus einer Reihe weiterer des Grundgesetzes ist. Die Verfassung will mehr als nur den Frieden sichern. In der Präambel des Grundgesetzes, die das Wesen der Verfassung widerspiegelt, heißt es nachdrücklich, daß das deutsche Volk „dem Frieden der Welt dienen“ will.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner zirka 150 Seiten umfassenden Entscheidung vom 12. Juli 1994 nicht erkannt, daß „dem Frieden dienen“ etwas gänzlich anderes ist als „den Frieden sichern“ oder den „Frieden schaffen“ oder gar „den Frieden erzwingen“. Es hat damit die Chance vertan, mit seiner Entscheidung nicht nur den unseligen Verfassungsstreit endlich zu beenden, sondern auch die nach 1989 längst überfällige friedenspolitische Diskussion einzufordern.

Was dient dem Frieden? Die Bundeswehr (50 Milliarden DM)? Der Somalia-Einsatz (310 Millionen DM)? Ein Panzer (6 Millionen DM)? Oder die Friedensforschung (5 Millionen DM)? Ferner: die Überwindung der Brennholzkrise in der sogenannten Dritten Welt durch die Finanzierung von Solarenergie in Höhe von 25 Millionen DM? Die „Nachrüstung“ der maroden Nuklearreaktoren sowjetischer Bauart für 15 Milliarden DM? Die Unterbringung eines Kriegsflüchtlings in Deutschland für 2.000 DM? Die Rettung eines von jährlich 15 Millionen verhungernden Menschen für 500 DM?

Doch warum sollten die Bundesverfassungsrichter und -richterinnen weiser sein als die Gesellschaft, deren Teil sie doch sind? Ende der achtziger Jahre ist zwar eingetreten, was viele herbeigesehnt haben: der Kalte Krieg ist vorbei, der Warschauer Pakt ist aufgelöst, Deutschland ist wiedervereint. Frieden und Sicherheit könnten endlich auf ein dauerhaftes und stabiles Fundament gestellt werden – eine Chance, die vielleicht nur alle 500 Jahre wiederkehrt.

Zu Beginn der neunziger Jahre wird jedoch immer offensichtlicher, daß die Staaten und Völker der Welt in dramatischer Weise auf dem Wege sind, ihre Jahrhundertchance zu verpassen. Dies gilt auch und vor allem für die Bundesrepublik Deutschland. Zu den entscheidenden Fehlern und Defiziten der bisherigen Sicherheitspolitik gehört ihre weitgehende Konzeptionslosigkeit in Friedensfragen, sei es bei der Lösung von Konflikten wie im zerfallenen Jugoslawien, sei es bei der Neuentwicklung von Institutionen über den bisherigen Militärpakt Nato hinaus.

Was ist die Konsequenz? Zeichnet sich am Horizont nicht bereits wieder ein in Abschreckungsblöcke zerrissenes Europa ab, in dem das Militärpotential Deutschlands eine größere Rolle spielt als die in ihm schlummernden zivilen Möglichkeiten?

Das Bundesverfassungsgericht jedenfalls hat mit seiner Entscheidung nichts zur Abwendung dieser Gefahr beigetragen. Im Gegenteil: Nahezu unbemerkt hat es – und dies ist der eigentliche Skandal – die Verfassung in einem entscheidenden Punkt in das Gegenteil des Geistes und ihres Wortlautes verbogen.

Nach Artikel 24 Absatz 2 Grundgesetz ist einzig und allein die Einordnung in ein System Kollektiver Sicherheit vorgesehen. Bis zum 12. Juli wurde unter Kollektiver Sicherheit in Abhebung zur „kollektiven Verteidigung“ etwas ganz Präzises verstanden – ein „terminus technicus“, wie schon Carlo Schmid 1948 im Parlamentarischen Rat sagte.

Auch die Charta der Vereinten Nationen unterscheidet in Artikel 51 einerseits und Artikel 52 bis 54 andererseits zwischen Systemen der Kollektiven Verteidigung und Systemen der Kollektiven Sicherheit. Seit dem 12. Juli ist jedoch Schwarz gleich Weiß, sind Kollektive Verteidigung und Kollektive Sicherheit identisch, ist die Nato nicht länger ein Militärpakt, sondern ein System Kollektiver Sicherheit.

Wenn aber Schwarz Weiß genannt werden darf, hat dann nicht auch eine Jahrhundertchance keine Chance mehr? Wenn wir laut Gerichtsbeschluß schon haben, was wir glaubten erst noch schaffen zu müssen, nämlich ein System Kollektiver Sicherheit, ist dann nicht jede weitere Diskussion überflüssig? Heute werden wir erfahren, ob und welche Gestaltungskraft der Bundestag in Friedens- und Sicherheitsfragen überhaupt noch hat. Dieter Lutz

Der Autor arbeitet am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg; zuletzt erschien als Taschenbuch: „Deutsche Soldaten weltweit? – Blauhelme, Eingreiftruppen out of area – der Streit um unsere sicherheitspolitische Zukunft“ (1993)