Widerstand mit Würde -betr.: "Jens Scheer ist tot", taz vom 20.6.94

Betr.: „Jens Scheer ist tot“, taz vom 20.6.

Jetzt, da er tot ist, soll er Mensch werden. Der Chaoten-Führer wird zum habilitierten Prof. Dr., der kommunistische Gewalttäter zum streitbaren Gelehrten. Was dem Publikum vorher in denunziatorischer Absicht präsentiert wurde, wird nun zur augenzwinkernd dargestellten, liebenswerten Marotte. Struppig war er – einst mit dem Messer zwischen den Zähnen, nun aus Mangel an Zeit, sich neben der Röntgenfluoreszenz, also etwas hoch Wissenschaftlichem offenbar, noch ausgiebig mit Körperpflege beschäftigen zu können. Die Humanität, die dem Lebenden so erbarmungslos verweigert wurde, wird dem Toten in ihrer pervertierten, nämlich wohlfeilen, sich selber dementierenden Form ebenso erbarmungslos angetan.

Vor der Heiligsprechung kommt das Steinigen, vor der wissenschaftlichen Erkennis das Streben nach dem Imprimatur der akademischen Konventionen. „66 Fragen, 66 Antworten, 66 Erwiderungen“ hieß eine der ersten, wissenschaftlich fundierten und gleichzeitig allgemeinverständlichen Kritiken an der Atomindustrie als Replik auf eine ihrer Propaganda-Broschüren zu einer Zeit, in der die SPD den blauen Himmel über der Ruhr noch mithilfe von AKWs herstellen wollte. Das Buch ging hervor aus dem Projekt Schadstoffbelastung am Arbeitsplatz in der Industrieregion Unterweser (SAIU) und hatte neben Hochschullehrern auch Studenten zu Verfassern – also eigentlich eine perfekte Verwirklichung der damals dominierenden Schlagworte von Projektstudium, forschendem Lernen und der Universität im Dienste der Unterprivilegierten. Doch es hatte einen entscheidenden Mangel: Es erschien im Oberbaum-Verlag, der im Umfeld der KPD angesiedelt war, was dem Rektorat von einem natürlich um den wissenschaftlichen Ruf der Universität höchst besorgten Physik-„Kollegen“ Scheers mitgeteilt wurde, worauf die wissenschaftliche Distanzierung dieses aus einem Historiker, einem Pädagogen und einem Juristen zusammengesetzten Kollegiums nicht lange auf sich warten ließ.

So absonderlich und fernliegend ist der Schritt eines Physikers, dessen Disziplin so wirklichkeitsnah ist, weil sie die Aufhebung ihrer eigenen Gesetze mitdenken kann, nicht, die Aufhebung von Denkverboten erst mit der Aufhebung der Gesetze für möglich zu halten, die diese konstituieren. Nur gehört dazu der Mut, die Aggressionen der Feigen auszuhalten, deren Mütchen gerade noch ausreicht, es an ihm zu kühlen. Einfach Thesen an eine Tür anzubringen – Bekleben verboten –, wird mit Ächtung und Bann bestraft, nur daß heute keine helfenden Burgbesitzer mehr bereitstehen, sondern nur ein paar Kollegen, Studenten, Bauern – und wegen ihrer Solidarität natürlich ebenfalls verdächtig, bis ins zweite und dritte Glied: Nicht nur der Referendar, der im Jens-Scheer-Solidaritätskommitee mitarbeitete, wurde mit einem Disziplinarverfahren überzogen, sondern auch seine Fachleiter im WiS, die sich gegen diese Maßnahme wandten, erhielten die barsche Aufforderung, ihr Verhältnis zur FDGO darzulegen.

„Lächelnd“ habe Scheer am Türrahmen gelehnt und damit „eine drohende Haltung“ angenommen, hieß es unisono in Anklageschrift und Urteil im sogenannten RCDS-Prozeß gegen Jens und zwei Studenten, was mit drei Monaten Gefängnis auf Bewährung gesühnt wurde, und zwar in solcher Gier, daß sich die Justiz wiederholt in ihren eigenen Regularien verfing: „Wenn der Scheer spricht, müssen Sie gar nicht zuhören, der ist ein Spinner“, wurde eine Schöffin vom vorsitzenden Richter belehrt; und da sie sich nicht einschüchtern ließ, wurde – ein Novum in der Bremer Nachkriegsgeschichte – dieser Richter sogar vom Staatsanwalt wegen Befangenheit abgelehnt. Es war diese eben nicht eiserne, sondern sanfte Konsequenz, die die Phraseure so aufbrachte und sie Jens der Phrasen zeihen ließ.

Als wir in der Nacht vor dem nach über sechs Jahren schließlich endgültig letzten Disziplinarprozeß zusammensaßen, um eine Erklärung abzufassen, die möglichst wenig devot dem Totem FDGO huldigen sollte – unsere Partei hatte sich da, wenn ich mich recht erinnere, wegen Erfolglosigkeit schon aufgelöst, ohne daß Jens sich dafür besonders stark gemacht hätte –, mußten wir ihm Wort für Wort abringen; nicht weil er so dogmatisch gewesen wäre, sondern weil uns vom politischen Senat informell Vorgaben gemacht worden waren. Jemandem auch nur aus taktischen Gründen nach dem Mund zu reden, war eine Zumutung für ihn, selbst als es um den Preis ging, endlich wieder uneingeschränkt forschen und lehren zu können. Und er war großherzig genug, dem zwei Tage später so unterwürfig wie kleinlaut auftretenden Abteilungsleiter der SKP entgegenzukommen, der ihm gestehen mußte, daß die finanziellen Mittel der Freien und Hansestadt Bremen leider nicht ausreichten, die nun fällige Gehaltsnachzahlung auf einmal zu überweisen, und deshalb um Ratenzahlung bat.

Welche Karriere hätte Scheer machen können, wäre er nur etwas verbindlicher, etwas realistischer und weltzugewandter gewesen, wird man jetzt von denen hören, die uns die reale Welt von Harrisburg und Tschernobyl beschert haben. Und wir, wir ließen und lassen das zu. Till Schelz-Brandenburg