Bukowiner Gemütlichkeit

Eine Reise nach Czernowitz in die Ukraine, wo die letzte Habsburgerherrlichkeit in der Altstadt abbröckelt. Heute gibt es Konflikte zwischen der rumänischen Minderheit und dem ukrainischen Nationalismus  ■ Von Klaus Bachmann

Der Busbahnhof der ostpolnischen Kleinstadt Przemysl liegt direkt neben dem städtischen Stadion, so daß die zahllosen ukrainischen Händler ihre Körbe, Koffer und Taschen nicht allzu weit schleppen müssen. Denn in Polens Stadien wird nur noch ausnahmsweise Fußball gespielt und ansonsten vor allem gehandelt. Von hier aus fahren regelmäßig städtische Busse ostgalizische Städte an und entlasten so die geplagte Eisenbahn, deren ukrainische Schnellzüge täglich von einer unübersehbaren Menge Kleinhändler regelrecht gestürmt werden.

Am Grenzübergang von Medyka steht ein halbes Dutzend junger ukrainischer Zöllner, zwischen einigen rostigen Ladas, die auf die Abfertigung warten. In zwanzig Minuten ist alles vorbei, niemand hat auch nur das geringste Interesse an der Tatsache gezeigt, daß manche meiner Mitreisenden bis zu einem Dutzend riesiger, prallgefüllter und unsagbar häßlicher ukrainischer Plastiktaschen einführen. Hinter Medyka ist die Straße vor Schlaglöchern nahezu unbefahrbar. Der Fahrer jagt den Bus gnadenlos, auf der Straßenmitte hupend, durch winzige Dörfer aus einstöckigen Holzhütten und um so größeren Kirchen. Der Motor jammert, heult und fiept, während unser Fahrer ihn auf der glatten Fahrbahn in Haarnadelkurven um parkende Ladas, erschreckte Fußgänger und Pferdefuhrwerke herumjagt. Eine Raststätte bei Kolomea erweist sich als eine Blockhütte mit einem großen Grillplatz im Innern, auf dem Mitgebrachtes gegrillt werden kann, denn zu kaufen gibt es nichts. Hinter der Blockhütte steht ein Schuppen mit zwei Eingängen, denen Düfte von beeindruckender Intensität entströmen. Die meisten Fahrgäste ziehen es vor, sich im Wald zu erleichtern.

Die Hochhausbauten von Czernowitz, zwischen denen das nach dem Fluß Tscheremosch benannte Hotel in einem matschüberfluteten Park steht, sind genauso häßlich wie überall in der früheren Sowjetunion. Morgens erwacht man, sieht aus dem Fenster und weiß nicht, ob man in Minsk, Kiew oder Wilna ist. Ein klappriger Trolleybus, allmorgendlicher Zeuge erbitterter Nahkämpfe um den Einstieg seiner Passagiere, bringt uralte Mütterchen in zerschlissenen Mänteln aus Teppichstoff, Frauen mit schreienden Babys und dunkelhäutige kleine Männer in russischen Pelzmützen in die Altstadt. Kaum jemand sitzt, denn einige der Sitzplätze sind bereits unter dem Gewicht früherer Fahrgäste zusammengebrochen.

Endstation Theaterplatz: Beim Aussteigen wird ein Huhn, das eines der alten Mütterchen in einer Tragetasche auf den Markt bringt, beinahe im Gedränge frikassiert. Wer nicht schnell genug aussteigt, den zerren die Einsteigenden an Kragen, Mantel oder Ärmel nach draußen. Endlich ein Blick auf die Altstadt: abbröckelnde Habsburgerherrlichkeit, die nostalgisch veranlagte Gemüter noch an Joseph-Roth-Romane und Schultzsche Zimtläden erinnern mag. Wie fast überall in der Ukraine beherbergt das größte, bestrestaurierte Gebäude der Stadt die Verwaltung des örtlichen Statthalters von Präsident Krawtschuk.

Vor dem Krieg waren von 120.000 Einwohnern 80.000 Juden. Das Kino auf dem Theaterplatz war damals noch eine Synagoge und Czernowitz noch Verwaltungszentrum der Bukowina, bis 1918 beim österreichischen Teil der Habsburgermonarchie, danach rumänisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam ihr nördlicher Teil zur Ukraine, der südliche ist bis heute bei Rumänien.

„Eine historische Ungerechtigkeit“, nennt diese Teilung Vasile Tereteanu von der rumänischen Mihai-Eminescu-Kulturgesellschaft, Chefredakteur der rumänischsprachigen Wochenzeitung Plaj Romanesc. Die rumänischen Vereine der Stadt sind in einem ladenähnlichen Haus am Zentralplatz untergebracht, das direkt neben dem Bezirksgericht liegt. So hat es Tereteanu nicht weit zu dem Prozeß, der ihm seit einem halben Jahr dort gemacht wird und der das gerichtliche Verbot von Plaj Romanesc zum Ziel hat. Die Wochenzeitung der rumänischen Minderheit habe wiederholt zur Änderung der bestehenden Grenzen der Ukraine aufgerufen, lautet der Vorwurf. „Wir haben ein paarmal Exilrumänen zu Wort kommen lassen, die erklärt haben, die Bukowina sei unteilbar“, erklärt Tereteanu, der das Ganze eher für einen Privatkrieg der örtlichen Staatsverwaltung hält, der sein Blatt ein paarmal an den Karren gefahren sei. Plaj Romanesc ist die einzige der drei rumänischsprachigen Zeitungen, auf die die Behörden keinen Einfluß haben, weil sie ohne Subventionen, dafür aber mit Spenden der Minderheit und nationalistischer Zeitungen in Rumänien gedruckt wird. Der Zensurversuch in Czernowitz hat zu geharnischten Protesten des offiziellen Rumänien, Demonstrationen und einem kleinen ukrainisch- rumänischen Pressekrieg geführt.

Tereteanu, ein kleiner schwarzhaariger Mann mit Spitzbart, ist schwer herzkrank. Immer wenn er sich aufregt, massiert er mit der rechten Hand sein Herz und schnappt heftig nach Luft. Trotzdem lädt er in die Räumlichkeiten seiner Zeitung, die ein paar Schritte weiter in der Innenstadt im zweiten Stock eines abbröckelnden Bürgerhauses liegen, das noch einiges vom Charme des früheren Czernowitz erahnen läßt.

Die Redaktion, das sind zwei enge Räume mit einem riesigen grünen Kachelofen. Statt Tee, der wegen Strommangels seit Wochen nicht mehr gekocht wird, gibt's Zeitungen in rauhen Mengen: auf den Stühlen, auf den Tischen, auf dem Boden, ganz so, als habe er versucht, damit den Kachelofen in Gang zu setzen. Plaj Romanesc ist eine dünne Wochenzeitung mit Gedichten von Mihai Eminescu, einem aus der Stadt stammenden und laut Tereteanu so genialen Dichter, daß er absolut unübersetzbar sei. Außerdem gibt es historische Beiträge und Berichte vom Leben der ukrainischen Rumänen, die im Bezirk Czernowitz immerhin noch 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. In der Stadt selbst, gesteht Tereteanu, gebe es vier Mittelschulen mit rumänischer Unterrichtssprache und drei Kirchen mit rumänischem Gottesdienst. „Trotzdem sprechen viele rumänischen Kinder nur noch ukrainisch“, klagt er. „Nach dem Krieg hat man unsere Namen russifiziert und uns gezwungen, rumänisch mit kyrillischen Buchstaben zu schreiben. Heute hat man die Wahlbezirke so eingeteilt, daß rumänische Dörfer von ukrainischen majorisiert werden.“ Er wolle keine Änderung der Grenzen, nur mehr Durchlässigkeit, beteuert Tereteanu, als wir seine eisigen Gemächer wieder verlassen, „heute wartet man monatelang auf einen Paß, wenn man mal über die Grenze nach Moldova oder Rumänien will“.

Zwei Straßen weiter, in einem nicht weniger baufälligen zweistöckigen Haus neben der armenischen Kirche, sieht man das anders. Hier ist die ukrainische Nationalbewegung zu Hause, in Gestalt zweier junger Burschen, von denen einer Chef des „Kongresses der Ukrainischen Nationalisten“ (KUN) ist. „Die Rumänen von der Eminescu-Gesellschaft bekommen ihr Geld vom rumänischen Geheimdienst“, verkündet KUN- Chef Konstantyn Katerintschuk kategorisch. „Die wollen ein Großrumänien aus Rumänien, der Bukowina und Moldova.“ Dafür sei die Zeit jetzt günstig: „Solange die Ukraine die Arme oben hat, kann man ihr leicht die Taschen leeren.“ Für die beiden Burschen sind die Rumänen nach den Serben Europas schlimmste Nationalisten. Im rumänischen Haus auf dem Zentralplatz bekommt man das genau andersherum zu hören: „Sie werden sehen, der ukrainische Nationalismus kann schlimmer werden als der deutsche Nationalsozialismus“, warnt Tereteanu.

Josef Zissels ist Vorsitzender der jüdischen Kulturvereinigung von Czernowitz. „Czernowitz ist ein ruhiges Städtchen. Der Staat unterstützt uns zwar nicht, aber er stört uns auch nicht“, wiegelt er ab. „Ukrainische Nationalisten“, er lacht, „warum soll ich die fürchten? Mit denen zusammen saß ich als Dissident im Gefängnis.“ Noch unter Gorbatschow stand Zissels als gefährlicher Intellektueller unter Hausarrest. „Hier ist nicht Ostgalizien. In Lemberg, da gibt's ein paar Gruppen, die antisemitisch sind. Aber Czernowitz gehört zur Bukowina, da fehlt viel von dem historischen Hintergrund der galizischen Konflikte.“

Das war nicht immer so. Als nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges 1941 die Nordbukowina wieder zu Rumänien kam, führte die rumänische faschistische „Eiserne Garde“ in jedem Dorf Massenerschießungen von Juden durch. In Czernowitz wurde für 50.000 Juden ein Ghetto eingerichtet. „Trotzdem konnte man die rumänischen Lager überleben, die deutschen nicht“, findet Zissels.

Nach dem Krieg wurde die Bukowina zum Fluchtpunkt für jene Juden, die die deutsche Besatzung in der östlichen Sowjetunion überlebt hatten und nun nach Palästina auswandern wollten: „Damals war die Grenze hier noch offen. 1946 wurde sie dann geschlossen, viele Juden ließen sich dann von Schleppern über die Grenze bringen, wurden von Banden in den Wäldern überfallen.“ Auch Zissels' Vater ging erst 1948 über die Grenze, kam über Rumänien nach Israel. Heute leben noch sechs- bis siebentausend Juden in der Stadt, von den 88 Synagogen und Gebetshäusern der Zwischenkriegszeit ist noch eine in Betrieb, von ehemals fünfzehn jüdischen Zeitungen erscheinen noch zwei.

Das „deutsche Haus“ hat seine Räumlichkeiten am Rand der Czernowitzer Altstadt in einem Kino, direkt neben einem weißgetünchten, chromblitzenden deutsch-ukrainischen Joint-venture, das importierte Kleidung und Lederwaren verkauft. „Warten Sie einfach, wird schon jemand kommen“, brummt die Dame in der Portiersloge des Kinos nebenan und deutet auf eine wacklige Holzbank in der unbeleuchteten Eingangshalle. Draußen dämmert es bereits, als sich um die Portiersloge allmählich eine kleine Menschenmenge bildet. Eintrittskarten gibt's nicht, denn es gibt auch kein Programm. Kurz nach sechs stellen einige Burschen zwei Bänke quer, und die Dame schleppt einen winzigen Schwarzweißfernseher mit einer überproportional langen Antenne aus ihrem Kabuff. Ihre Gäste lassen sich auf den Bänken nieder, der Fernsehapparat setzt sich mit einem giftigen Zischen in Betrieb. Eine von einem russischen Übersetzer gedoubelte amerikanische Wasserstoffblondine erklärt, warum ihr Haar mit diesem und nur diesem Shampoo ganz besonders weich und glänzend werde, und ein schmatzender Yuppie mit fettglänzenden Haaren fordert zum Kauf eines Schokoriegels auf, für dessen Gegenwert jeder seiner Zuschauer drei Monate lang seine Miete zahlen könnte. Die Unterhaltung erstirbt. Gebannt beobachtet die Kinobesatzung die hunderteinundzwanzigste Folge einer spanischen, von einer Männerstimme ins Russische übersetzten Seifenoper, die im wesentlichen darin besteht, daß unerhört reiche und aufwendig frisierte Damen der oberen Mittelklasse fremdgehen, während ihre Ehemänner um Einfluß, Macht oder noch aufwendiger frisierte Damen intrigieren. Grundsätzlich tun das alle Beteiligten unter ständiger Zuhilfenahme gefüllter Whiskygläser. Nein, gibt die Portiersdame in der ersten Reihe nach einer halben Stunde unwirsch zu, heute kämen wohl keine Deutschen mehr. Aber der Hausmeister, der in einem mit Eimern und Eisenwaren vollgestopften Verschlag haust und den spanischen Palastintrigen nichts abgewinnen kann, verrät die Adresse des Vorsitzenden der „deutsch- österreichischen Gesellschaft“.

Rechtsanwalt Franz Keller, der in einer aus einigen Tischen, einer Schreibmaschine und einem luftigen Vorzimmer bestehenden Anwaltskanzlei residiert, vertritt die 280 Czernowitzer Deutschen, die noch in der Stadt leben: „Die Behörden hier sind uns gegenüber sehr positiv eingestellt.“ Er breitet die Arme aus, als sei er sich bewußt, daß er etwaige Hoffnungen auf einen pressewirksamen Nationalitätenkonflikt enttäuschen müsse. Ukrainischer Nationalismus? „Wissen Sie“, lächelt er, „hier gibt's noch eine österreichische Mentalität. Selbst von den ärgsten Nationalisten war doch mindestens der Großvater noch österreichischer Soldat.“