: Was die da forschen
Heinrich Bölls Kritische Gesamtausgabe entzweit seine Erben und die Universität Wuppertal ■ Von Stefan Koldehoff
Der Zeitpunkt war offensichtlich bewußt gewählt: Die Wuppertaler Universität dämmerte bereits im Semesterferienschlaf, als die dpa-Meldung Inw 013 hektische Betriebsamkeit auslöste. Die Böll-Erben, hieß es, hätten den 1988 mit der Hochschule geschlossenen Vertrag über die Herausgabe einer Kritischen Böll- Gesamtausgabe gekündigt.
Die gezielt lancierte Neuigkeit war eigentlich gar keine. Die Kündigung war in der Uni schon am 21. Mai eingegangen, zehn Tage später hatten deren Rektor und Kanzler sie unter Verweis auf inhaltliche Unstimmigkeiten und fehlende vorherige Abmahungen zurückgewiesen. Der Berliner Anwalt der Böll-Erben, Prof. Wilhelm Nordemann, schlug daraufhin am 23. Juni ein klärendes Gespräch vor und erklärte gegenüber der Hochschule, er halte es „im beiderseitigen Interesse für sinnvoll, daß wir zunächst nicht weiter korrespondieren, was erfahrungsgemäß die unterschiedlichen Standpunkte beider Seiten nicht näher bringt, sondern allenfalls zementiert“. Warum sich die Böll- Familie dann doch noch mitten im nachrichtenarmen Sommerloch an die Beton-Mischmaschine stellte, ist nur vor dem Hintergrund des schon seit mehr als zwei Jahren schwelenden Streits zwischen beiden Parteien zu verstehen, an dem 1992 fast das große Böll-Symposium in Köln und Wuppertal gescheitert wäre. Es ist die Geschichte philologischer Differenzen, gekränkter Eitelkeiten und durchaus materieller Interessen. Über den literarischen Wert vieler Werke Heinrich Bölls streiten auch neun Jahre nach seinem Tod noch immer die Gelehrten. Das von Heinrich Böll testamentarisch eingesetzte Herausgeber-Gremium – bestehend aus Heinrich Vormweg, Annemarie, René, Viktor und Vincent Böll – möchte hier gegensteuern und zielt daher mit der Kritischen Gesamtausgabe auf Breitenwirksamkeit. Der 1988 zwischen den Erben und der Hochschule geschlossene Vertrag allerdings sieht die Herausgabe einer Gesamtausgabe vor, die vor allem wissenschaftlichen Maßstäben genügt. In Wuppertal, wo auch die kritischen Editionen von Franz Kafka, Clemens von Brentano, Hugo von Hofmannsthal, der Gebrüder Grimm und Else Lasker- Schüler erarbeitet werden, dauert dies seine Zeit.
Forschung planlos
Daß diese Zeit nie – wie im Vertrag vorgesehen – in einem Editionsplan klar umrissen wurde, ist einer der Hauptvorwürfe des Dichterneffen Viktor Böll: „1991 sollte der erste Band mit der Option der Verschiebung auf 1993 erscheinen. Geschehen ist nichts. Es gibt auch keinen Editionsplan. Wir wissen gar nicht, was und nach welchen Prinzipien die da forschen. Berichte über die Arbeit erhalten wir seit zwei Jahren nicht mehr. Während das von mir geleitete Böll-Archiv der Stadtbücherei Köln laufend Informationen und Recherche-Ergebnisse nach Wuppertal weitergegeben hat, hält der Inhaber der eigens für die Böll-Forschung geschaffenen Professorenstelle, Werner Bellmann, bewußt Daten zurück, die unter anderem mit Mitteln der Heinrich-Böll-Stiftung gesammelt wurden. Mir erscheint es dringend nötig, schon gewonnene Erkenntnisse bereits jetzt – und nicht erst bei Erscheinen der Kritischen Gesamtausgabe – in die Böll-Bücher einfließen zu lassen, zumal abzusehen ist, daß auch zum zehnten Todestag 1995 in Wuppertal nichts erscheinen wird. Es gibt aber schon seit langem eine ganze Reihe von Neudatierungen und Textänderungen. Bellmann ist nicht bereit, das schon jetzt zu veröffentlichen. Er will alles für seine Ausgabe behalten, und wann die erscheint, ist völlig unklar. Wir haben uns mehrfach bemüht, den Krach beizulegen. Der Kanzler der Wuppertaler Uni hat uns sogar schriftlich eine Mitteilung über das weitere Vorgehen zugesagt, nur gekommen ist nichts.“
Viktor Böll selbst hat inzwischen als Eigenpublikation der Kölner Stadtbücherei jene Aufsätze herausgegeben, die Heinrich Böll vor allem in den fünfziger Jahren für die „Welt der Arbeit“ schrieb. Im August soll in Zusammenarbeit mit dem Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch und dem finanzkräftigen Bertelsmann-Buchclub ein Band mit allen 118 Erzählungen erscheinen: „Wie kommt es“, fragt Viktor Böll, „daß wir in nur einem halben Jahr ein Viertel des gesamten erzählerischen Werkes Heinrich Bölls in kritischer Textüberprüfung für den Neudruck einrichten konnten, dabei mehr als 500 Änderungen und zum Teil maßgeblich andere Textenden rekonstruieren konnten – und die sitzen in Wuppertal seit sechs Jahren mit Sekretärin, wissenschaftlicher Mitarbeiterin, zwei Doktoranden und mehreren studentischen Hilfskräften und haben noch nichts veröffentlicht?“
Zugang frei
Die ganze Wahrheit ist das freilich nicht. Von einer Veröffentlichung zum zehnten Todestag sei nie die Rede gewesen, behauptet der Verlag Kiepenheuer & Witsch. Und an der Zusammenstellung des von Heinrich Vormweg herausgegebenen Erzählungen-Bandes ist der heute in Göttingen tätige Germanist und Freund von Bölls Sohn René, Karl Heiner Busse, beteiligt. Auf Wunsch der Böll-Erben hatte er ab 1989 selbst in der Böll-Forschungsstelle gearbeitet, bis man sich aufgrund inhaltlicher Differenzen 1992 trennte. In den mehr als drei Jahren seiner Wuppertaler Tätigkeit hatte Busse freien Zugang zu allen Forschungsergebnissen und auch zu den Computerdateien, in denen sie gespeichert waren. Ein Teil der Editionsarbeit für den ab August für 48 Mark im Buchhandel angebotenen Band ist also möglicherweise in Wuppertal geleistet worden, ohne daß diese Vorarbeit von den Herausgebern Viktor Böll und Karl Heiner Busse genannt würde.
In den unterschiedlichen Editionsinteressen sieht auch Werner Bellmann den Kern des Konfliktes: „Ich denke, Viktor Böll hat die Kontroverse bewußt zugespitzt, um seine eigenen Projekte durchzuziehen. Und ich habe den Eindruck, daß dabei nicht immer ganz fair vorgegangen wird. Böll wirft mir jetzt beispielsweise vor, ich hätte eine versprochene Neuherausgabe von ,Der Zug war pünktlich‘ nicht zustandegebracht. Tatsächlich war es die Verlagslektorin, die – auch wegen verlagsrechtlicher Bedenken – vorschlug, dieses Projekt lieber sein zu lassen, als feststand, daß für einen geplanten Band mit Materialien viel zu wenig Zeugnisse der Rezeption vorhanden sind. Die Editionsprinzipien für die Kritische Gesamtausgabe haben wir nicht nur den Böll-Erben dargelegt, sondern in schriftlicher Form auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, um von dort Zuschüsse zu bekommen. Nicht zutreffend ist auch der Vorwurf, wir hätten in Köln keine Forschungsergebnisse zur Verfügung gestellt. Ich habe umfangreiche Materialien an die Erben und das Böll-Archiv weitergeleitet, darunter weit über 100 Transkriptionen von Nachlaßwerken, Computerdateien über mehrere tausend ausgewertete Briefe und Zusammenstellungen von Entstehungs- und Publikationsdaten von rund 250 literarischen Arbeiten der ersten Nachkriegsjahre.
Richtig ist dagegen, daß ich keinen Editionsplan vorgelegt habe. Das wäre auch gar nicht möglich gewesen, denn das von Heinrich Böll testamentarisch eingesetzte Herausgebergremium hat uns nie wissen lassen, welche der 120 bis 130 unveröffentlichten Werke aus der Frühzeit beispielsweise in die geplante erste Sektion der Kritischen Ausgabe für die Jahre bis 1953 aufgenommen werden sollten. Wenn Viktor Böll nun behauptet, man haben alle Texte mit mir besprochen, dann entspricht das nicht der Wahrheit. Es hat zwar in der Tat einen Durchgang gegeben, dabei ist aber lediglich ein erstes Meinungsbild erstellt worden. Die Herausgeber haben in diesen zwölf Sitzungen sehr viel offen gelassen, endgültige Entscheidungen wollten sie erst nach Kenntnis aller Texte treffen. Hätte ich auf dieser Grundlage einen Terminplan erstellt, wäre jede Fristüberschreitung laut Vertrag ein Kündigungsgrund für die Erbengemeinschaft gewesen.“
Zum ersten großen Knall kam es schließlich 1992. Im Sommer des Jahres teilte René Böll – laut Unterlagen der Wuppertaler Forschungsstelle – mit, er werde ein Konvolut von etwa 500 frühen Briefen – darunter die Korrespondenz mit Alfred Andersch – nicht mehr zur Verfügung stellen, weil auch aus Wuppertal kein Datenmaterial mehr nach Köln weitergegeben werde. Und Viktor Böll, Leiter des Böll-Archivs der Stadtbücherei, bestätigt, ebenfalls bewußt Material zurückgehalten zu haben: „Es gab ab diesem Zeitpunkt keine Zusammenarbeit mehr. Herr Bellmann hat auch nicht an den Treffen mit dem Herausgebergremium teilgenommen.“
Kooperation beendet
Zum bereits vorbereiteten gemeinsamen Böll-Symposium im Winter des Jahres raufte man sich noch einmal zweckgebunden und kurzfristig zusammen; ein Gespräch im April 1993 brachte dann aber den Anfang vom Ende. „Die Universität hat damals vorgeschlagen“, erinnert sich Werner Bellmann, „die Mitarbeiter der Forschungsstelle in die Kölner Nebenprojekte mit einzubeziehen und als solche auch namentlich zu nennen. Das ist eine Frage von Leistung und Gegenleistung, wir wollen keine anonymen Vorarbeiter mehr sein. Diesen Vorschlag haben die Böll-Erben vehement zurückgewiesen. Seither haben wir aus dem Böll-Nachlaß so gut wie kein Material mehr zur Verfügung gestellt bekommen.“ Daß zwischen Köln und Wuppertal seit 1992 weitestgehende Funkstille herrschte, bestätigt auch ein Schreiben der Wuppertaler Universitätsleitung an die Böll-Erben. „Die Berichte wurden bis Sommer 1992 ordnungsgemäß erstattet“, schreiben unter dem Datum des 31. Mai 1994 Rektor Erich Hödl und Kanzler Klaus Peters, „danach nicht mehr, weil die Erbengemeinschaft ihre Mitarbeit stornierte. Herr Professor Bellmann ist zu Recht davon ausgegangen, daß die aus dem Vertrag resultierenden Rechte und Pflichten ruhen, bis die Stornierung ihrerseits aufgehoben wird.“ Für Viktor Böll wirft gerade dieser Passus Fragen auf: „Abgesehen davon, daß zu diesem Zeitpunkt schon 99,6 Prozent des Materials durch das anfangs ja blendende Verhältnis in Wuppertal zur Verfügung stand: Wenn nach Meinung der Hochschule der Vertrag ab 1992 ruhte, worüber wurde dann in Wuppertal überhaupt noch geforscht? Ist das nicht eine riesige Verschwendung öffentlicher Mittel?“ Für die Klärung dieser Fragen hat sich inzwischen die nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerin Anke Brunn als Vermittlerin angeboten. Aussichten auf Erfolg hat ihre Initiative allerdings kaum.
Vermittlung sinnlos
Viktor Böll teilte ihr in einem Brief bereits mit, die Wuppertaler Universität betrachte ihn seiner Meinung nach als „diesen unwissenschaftlichen, der Arbeit hinderlichen Volltrottel aus Köln“ und forderte die Hochschule auf, alle noch in ihrem Besitz befindlichen Kopien von Kölner Böll-Material „zu vernichten oder in anderer Weise dafür zu sorgen, daß das darauf Kopierte vernichtet wird. Alles andere muß jetzt endgültig ins Heinrich-Böll-Archiv der Stadt Köln zurück.“ Die Möglichkeit einer weiteren Zusammenarbeit mit Wuppertal schließt Böll aus: „Die Brunn-Vermittlung erscheint uns sinnlos.“ Weitergeführt werden soll die Kritische Böll-Gesamtausgabe in jedem Fall; offen nachgedacht wird nun über eine Kooperation mit der Uni Köln. Von „schweren Verletzungen“ spricht auch Werner Bellmann, der die Arbeit an der Böll-Ausgabe trotzdem gern weiterführen würde. Ein – vielleicht letztes – Gespräch zwischen beiden Parteien soll Anfang August stattfinden. Bis dahin wird sich auf Antrag der SPD auch der Düsseldorfer Landtag mit der Angelegenheit befassen.
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