Familie, Nation, Religion, stöhn!

■ Anhand obiger Problemfelder versucht ein US-amerikanischer Kommunitarist, die moralphilosophische Dimension von loyalem Verhalten auszuleuchten

„Ehebruch ist eine Sünde, Landesverrat ein Verbrechen, Götzendienst ein theologisches Laster.“ So schreibt der Autor George P. Fletcher, Juraprofessor in New York, in seinem Buch über moralische Beziehungen. Erwartet uns eine Beschwörung reaktionärer Werte? Allein schon die Trias: Familie, Nation, Religion läßt aufstöhnen.

Der Eindruck bekräftigt sich, wenn wir zudem lesen, unsere Beziehungen zu Freunden, Familien und Nationen seien durch eine marktwirtschaftliche Mentalität charakterisiert: „Gefällt uns das Erhaltene nicht, überlegen wir, zur Konkurrenz zu gehen.“ Denn wenn eine Ehe wackele, tauschten wir schnurstracks unseren Ehepartner oder unsere Ehepartnerin; wenn eine religiöse Gemeinschaft eine falsche Position beziehe oder eine Nation in die Hände einer falschen Partei gerate, wechselten wir einfach unsere Religion und, wenn es sein muß, unser Land. Diese Zeitdiagnose der amerikanischen Gesellschaft drückt ultrakonservative Kritik aus.

Aber das Buch hat ein wichtiges Thema: „Loyalität“. In anschaulicher Schreibweise und anhand vieler Falldarstellungen rückt Fletcher einen Aspekt ins Blickfeld der moralphilosophischen Diskussion, der bisher nicht genügend beachtet wurde. Wir erwarten, daß sich die Personen, zu denen wir eine Beziehung haben, uns gegenüber loyal verhalten, und fühlen uns umgekehrt selbst zur Loyalität gegenüber unseren FreundInnen, unseren Bekannten, KollegInnen und Familienangehörigen verpflichtet.

Loyalität läßt uns in einer Freundschaft oder Liebesbeziehung die Verbindung zum Partner oder zur Partnerin nicht schon dann aufgeben, wenn wir vorübergehend unzufrieden sind. Loyale Verpflichtungen setzen Vertrautheit, gemeinsame Unternehmungen und geteilte Lebenserfahrungen voraus. Daher fußen Loyalitätsbeziehungen nach Fletcher in einer gemeinsamen Geschichte. Sie ergeben sich also aus unserer jeweiligen Einbindung in einen historisch gewachsenen Kontext.

Dabei unterscheidet der Autor drei Loyalitätstypen. An den ersten Typ, der persönliche und familiäre Beziehungen umfaßt, denkt bei dem Stichwort „Loyalität“ automatisch jede(r); die zwei weiteren Loyalitätstypen dagegen überraschen: Sie betreffen die Beziehung zur Gemeinschaft oder Nation und die Beziehung zu Gott.

Ausgerechnet zur Loyalität bei persönlichen Beziehungen sagt Fletcher sehr wenig. Leider analysiert er beispielsweise nicht, wann Loyalitäten bei Freundschaften und Liebesbeziehungen anfangen und wann sie aufhören, wie sich diese Loyalitätsart von der familiären Bindung an Grad und Intensität unterscheidet.

So bekommt er überhaupt nicht in den Blick, welche Auswirkungen der Freiwilligkeitsaspekt eingegangener Beziehungen auf loyales Verhalten hat und wie bedeutend die Rolle der Zuneigung ist. Statt dessen wendet er sich gleich den Bereichen Staat und Religion zu.

Die Identifikation der BürgerInnen mit dem Staat ist ein schwieriges Kapitel – vor allem in Deutschland. Fletchers Behauptung, wir hätten tatsächlich eine irgendwie geartete affektive Bindung zu unserem Land, die ausschließlich daher rührt, daß wir mit dessen Kultur und Geschichte verwurzelt sind, kann man auch für Deutsche plausibel machen. So empfinden wir Deutsche der Nachkriegsgeneration den Juden und Jüdinnen gegenüber Schuldgefühle und eine besondere Form der Verpflichtung, und zwar als Deutsche, und nicht, weil uns persönliche Schuld an ihrer Verfolgung und Vernichtung trifft.

Dieses vielleicht doch nicht ganz zu vernachlässigende Thema der Loyalität zum eigenen Land handelt Fletcher allerdings zu pauschal ab. Warum und wem gegenüber sind wir da eigentlich loyal? Der Nation, dem Land, dem Staat? Wichtige Fragen wie diese bleiben unberührt.

Statt dessen propagiert Fletscher den Patriotismus, der durch gefühlsbetonte Rituale entfaltet wird. Vielleicht muß man Fletcher zugeben, daß Rituale in einer multikulturellen Gesellschaft dazu beitragen können, ein Bewußtsein des gemeinsamen Fundaments und der nationalen Identität zu erzeugen. Dagegen vermißt man eine eingehendere Auseinandersetzung mit den Gefahren des Patriotismus, die gerade durch emotionale Riten begünstigt werden. Es ist ja wohl nicht notwendig, die Nationalhymne zu singen oder die Fahne zu küssen, um sich für die Gesellschaft, in der man lebt, verantwortlich zu fühlen und sich politisch zu engagieren.

Fletchers Auffassung von Religion, obwohl er dabei nur die jüdische im Auge hat, ist nun völlig abwegig. So versteht er das erste und zweite Gebot: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ und „Du sollst dir kein Bildnis machen ...“ als Loyalitätsforderungen. Gott fordere als König, Vater und Beschützer von seinem Volk Loyalität. Religiöse Bindung sei deshalb hauptsächlich als loyale Verpflichtung zu verstehen. Diese Auffassung von Glaubensstrukturen ist autoritär, antiaufklärerisch. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum religiös motivierte Verpflichtungen als loyale zu charakterisieren sind und nicht eine eigene Dimension besitzen.

Neben seinem gesellschaftspolitischen Anliegen, dem zunehmenden Individualismus, der Entwurzelung und der Auflösung der Gesellschaft das Allheilmittel Loyalität entgegenzusetzen, hat Fletcher noch ein zweites, nämlich ein moralphilosophisches Ziel. Ihm geht es darum, eine Ethik der Loyalität der unversalistischen Moral gegenüberzustellen, die den Grundsatz unparteilicher Gerechtigkeit vertritt. Damit gehört er in das Lager der kommunitaristischen Kritiker, die der unversalistischen Moral vorwerfen, bestimmte ethische Phänomene, wie zum Beispiel Loyalität, nicht angemessen in den Griff zu bekommen.

Das Paradebeispiel: Warum finden wir es unmoralisch, wenn ich in einer Situation, in der ich mich zwischen zwei ertrinkenden Kindern entscheiden muß, nicht mein eigenes Kind, sondern ein unbekanntes rette? Parteilichkeit und persönliche Bindung widersprechen der Vorstellung von gerechtem Verhalten. Unparteilichkeitsmoral könne zwar, so Fletcher, die Grenzen der Loyalität ziehen helfen und Gründe liefern, eine Loyalitätsbeziehung aufzugeben, zum Beispiel wenn Patriotismus in Faschismus umschlage. Aber sie könne wiederum nicht begründen, warum es überhaupt zu dieser Bindung kam. Daher seien Loyalitätsethik und universalistische Moral völlig unabhängig voneinander, keine von beiden lasse sich auf die jeweils andere reduzieren.

Bei diesem Ergebnis einer unaufgelösten Dialektik bleibt Fletcher stehen, was einen höchst unbefriedigt läßt. Denn was ist, wenn Loyalität mit moralischen Grundsätzen in Konflikt gerät? Was, wenn eine Strafverteidigerin, die ihren Vater verteidigt, erkennen muß, daß er wirklich ein Kriegsverbrecher ist? Wie sollen wir uns entscheiden: für Loyalität oder für Gerechtigkeit? – An diesen wie an anderen Stellen weicht Fletcher aus. Auch andere Fragen stellt er sich nicht. So umgeht er das Problem, ob Loyalitätsverpflichtungen nicht nur empfunden, sondern umgekehrt überhaupt moralisch einklagbar sind: Haben Eltern ein Recht auf loyale Kinder? Hat der Staat ein Recht auf loyale Bürger?

Loyalität, das macht Fletcher deutlich, ist ein wichtiges Thema; sein Buch allerdings ist eine vertane Chance – politisch wie philosophisch. Gertrud Grünkern

George P. Fletcher: „Loyalität. Über die Moral von Beziehungen“. Aus dem Amerikanischen von Christiana Goldmann. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/ Main 1994, 237 Seiten, 19,90 DM