Der „Vater des Volkes“ hält Einzug

Nach zwanzigjährigem Exil kehrt der Schriftsteller Alexander Solschenizyn nach Moskau zurück – als von sich selbst überzeugter williger Werbeträger der russischen Politiker  ■ Aus Moskau Boris Schumatsky

Nach zweimonatiger Reise durch den Osten Rußlands ist Alexander Solschenizyn in Moskau angekommen. Der Zug Peking–Moskau, an den zwei Eisenbahnwaggons für seine Begleitung angehängt wurden, war ausnahmsweise pünktlich. Darüber waren sogar die Eisenbahnbeamten erstaunt: Seit dem Tod Stalins nahmen sie das Kursbuch nicht so genau, es sei denn, es handelte sich um einen Regierungsgast aus Indien oder China. Ein Beamter erinnerte sich an die Ankunft von Dschawaharnal Neru noch zu Breschnews Zeiten: Wie damals war auch heute der Bahnsteig Nr. 5 durch die Sondertruppen der Miliz lückenlos abgesperrt. Jetzt kamen noch die Beamten des präsidialen Sicherheitsdienstes dazu.

Die Atmosphäre eines Regierungsempfangs schien den ehemaligen Kämpfer gegen die kommunistische Nomenklatura nicht zu stören. Nach eigenem Bekunden sei er als großer Schriftsteller „so etwas wie eine zweite Regierung“. Dennoch weigerte sich Solschenizyn vor den am Bahnhofsplatz versammelten Moskauern, einen offiziellen Posten anzunehmen. Er wolle seiner „Rolle des Schriftstellers“ treu bleiben.

Solschenizyn will den Russen beibringen, wie sie „Rußland einrichten sollen“. In dem vor vier Jahren veröffentlichten gleichnamigen Programm führt er statt liberaler Reform die Idee der russischen Eigenartigkeit und der nationalen „Geistigkeit“ ins Gefecht. Seine Reise habe diese Überzeugung bestätigt, sagt er: „Mein Programm kann man auch heute noch anwenden.“ Zugegeben, Solschenizyn hat mehr gesehen als die Touristen der Transsibirischen Eisenbahn. Er konnte sich länger in den Städten aufhalten und nicht nur mit dem „einfachen Volk“, sondern auch mit Funktionären reden. Solschenizyns Rede am Bahnhofsplatz glich daher sehr einem Rechenschaftsbericht an einem Parteitag. Wie einst die kommunistischen Machthaber, instrumentalisierte er die Ressentiments des Volkes für eigene Zwecke: „Ich habe mit den Lehrern, den Schülern, den Werktätigen, den Unternehmern, den Wissenschaftlern, den Fischern und den Ärzten gesprochen. Alle ihre Bitten habe ich notiert. Das ganze Rußland stöhnt und ächzt. Rußland ist ins Unglück geraten.“

Solschenizyn kann, so macht er glauben, seinem Land aus diesem Unglück heraushelfen und den Weg zum „würdevollen Leben“ weisen. Das Volk sei für ihn kein „Material für die Wahlkampagne“. Eher behandelt er die Russen wie unvernünftige und launische Kinder, die einen strengen Lehrer brauchen, oder einen Hirten. Deswegen seien der demokratische Parlamentarismus und die liberale Reform ganz fehl am Platze. Allein der große Schriftsteller, ein Prophet der russischen Seele, ist deswegen imstande, die widersprüchlichen Wünsche und Triebe des Volkes zu begreifen und den richtigen Weg für Rußland zu bestimmen.

Dennoch lernt man auch in Rußland, sich durch politische Agenten vertreten zu lassen. Kaum jemand im Land glaubt an einen guten Zaren. Wie sie einst und später Stalin und Chruschtschow stilisiert sich Solschenizyn zu einem Vater des Volkes. Die von der BBC bezahlten Luxuswaggons erinnern an die sogenannten Zarenzüge und an die „Sonderzüge“ der kommunistischen Machthaber.

Die meisten Russen denken bereits in den Begriffen der Solschenizyn so verhaßten parlamentarischen Demokratie. Für Solschenizyn ist darin kein Platz. Nach einer Meinungsumfrage kann ihn fast die Hälfte der Russen keiner politischen Strömung zuordnen, und zehn Prozent kennen nicht mal seinen Namen. Die russischen Medien haben im Gegensatz zu den westlichen sehr wenig über seine Reise berichtet. Die Aufmerksamkeit, die Solschenizyn in den russischen Provinzstädten erweckte, verdankt er den russischen Politikern, die ihn als williges Werbemittel benutzen.

Der Schriftsteller hat das nicht bemerkt. Während seiner Rede am Jaroslawer Bahnhof wirkte er vital und glücklich. „Ich will mit meinem Volk sein Schicksal teilen“, verkündete Solschenizyn – ein Spruch, den er schon in seiner Villa in Vermont oft wiederholte. Es regnete, und Solschenizyn nahm demonstrativ seinen Regenschirm weg. Der große Schriftsteller stand mit seinem Volk unter dem warmen Nieselregen, nahm dankend die Blumen entgegen, drückte die Hände, und wie ein erfahrener Politiker ignorierte er die Losungen „Verräter! Schande!“, die die Kommunisten aus der Bewegung „Arbeitendes Moskau“ ausriefen. Dann fuhr er ins Troize- Lykowo, eine streng bewachte Bonzensiedlung, wo für ihn ein Haus gebaut wurde. Dort wird er seine Rede vor dem Parlament und ein Treffen mit Präsident Jelzin vorbereiten.