Alltäglicher Justizterror gegen „Volksschädlinge“

■ „Strafjustiz im Totalen Krieg“: 2.Dokumentationsband der Arbeit von Bremer Sondergerichten im 2. Weltkrieg

Walerjan Wrobel hatte sich tragisch verrechnet. Der 16jährige Pole hatte sich 1941 freiwillig zum Arbeitseinsatz in Deutschland gemeldet. Doch in Lesum kam der laut Gerichtsakten „und noch wie ein Kind wirkende“ Junge nicht zurecht. Er konnte sich nicht verständigen, die Arbeit war hart und ihn quälte das Heimweh. Da beging er einen folgenschweren Fehler: In der Annahme, bei Fehlverhalten wieder nach Hause geschickt zu werden, zündete Wrobel die Scheune des Bauernhauses an. Der Brand war schnell gelöscht, doch Wrobel war verloren: Er kam ins KZ Neuengamme und wurde schließlich vom Bremer Sondergericht zum Tode verurteilt. Am 25.8.1942 um 6 Uhr 15 wurde der damals 17jährige polnische Bauernsohn in einem Hamburger Gefängnis enthauptet.

Das „Heimweh des Walerjan Wrobel“ ist durch ein Buch und einen Film der bekannteste Fall von nationalsozialistischer Unrechtsjustiz in Bremen geworden. Während des gesamten Krieges waren die „Sondergerichte“, eigene Strafkammern an den Oberlandesgerichten, damit beschäftigt, die „Heimatfront“ zu begradigen und Taten zu ahnden, die den „Wehrwillen des Volkes“ oder seine Durchhaltefähigkeit im Angesicht von Bombenangriffen und Rückzügen an allen Fronten in Frage stellten. Die Akten des Bremer Sondergerichts haben Mitarbeiter des Justizsenators seit Jahren gesichtet, zusammengestellt und veröffentlicht. Unter dem Titel „Strafjustiz im Totalen Krieg“ ist jetzt der zweite Band erschienen, in dem es vor allem um „Volksschädlingsverbrechen“ geht.

Die Gerichte hatten politische Funktionen im NS-Staat, betont Hans Wrobel (keine Verwandschaft mit Walerjan Wrobel), der zusammen mit Henning Maul-Backer das Projekt „Sondergerichtsakten“ betreut: Den sofort nach der Machtübernahme der Nazis 1933 eingerichteten Sondergerichten „war von Anfang an die Rolle von Gerichten zugedacht, die sich vornehmlich mit echten und vermeintlichen Gegnern des nationalsozialistischen Staates auseinandersetzen sollten.“ „Volksschädlinge“ konnten nicht mit der Milde des Gesetzes rechnen: Die akribisch aufgeführten Einzelschicksale belegen das. Da stiehlt eine Angestellte bei der Post den Inhalt von Päckchen und Briefen: Geld und Zigaretten. Das Urteil: Todesstrafe.

Sondergerichte waren Instrumente zur Durchsetzung des totalen Krieges

Die Begründung macht deutlich, daß es bei den Sondergerichten nicht um ein angemessenes Urteil für den konkreten Einzelfall ging, sondern daß hier exemplarisch bestraft wurde: „Die Angeklagte hat es sogar in ihrer Gewissenlosigkeit fertiggebracht, Feldpostpäckchen zu berauben, die verwundeten, im Lazarett liegenden Soldaten zugute kommen sollten. (...) Die Angeklagte ist ein Volksschädling im wahrsten Sinne des Wortes. Um die notwenige abschreckende Wirkung zu erzielen, muß nunmehr mit der härtesten Strafe vorgegangen werden.“ Durch einen Gnadenakt wurde die Frau später zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt.

Die Sondergerichte, betont Wrobel, waren nicht vergleichbar dem Volksgerichtshof in Berlin, wo ein tobender Roland Freisler sein Terrorregime führte. Aber sie waren die Instrumente zur Durchsetzung des totalen Krieges. Der Diebstahl eines völlig wertlosen Kabels bei der Beseitigung von Bombentrümmern wurde ebenso drakonisch bestraft wie der „verbotene Umgang mit Kriegsgefangenen“. Eine Bremerin, die eine Liebesaffäre mit einem gefangenen Franzosen hatte, verurteilten die Richter zu drei Jahren Zuchthaus. Der Vorwurf: „Sie hat ein Verhältnis mit einem Kriegsgefangenen, also einem Feind, angefangen, obwohl ihr Mann erst 1/2 Jahr zuvor gefallen war und obwohl ihr Haus durch feindlichen Fliegerangriff stark beschädigt und ihre Mutter an den Folgen des Fliegerangriffs gestorben war. Jedes Gefühl und Verständnis für die Würdelosigkeit ihres Verhaltens als deutsche Frau und Mutter hat ihr gefehlt.“

Wer es schafft, die trockenen Justizakten zu lesen, den erwartet ein Einblick in die Abgründe nazideutscher Gesinnungs- und Durchhaltejustiz. Im Vorwort zum ersten Band der Serie, die mit dem dritten Band über Verstöße gegen das Kriegswirtschaftsgesetz abgeschlossen werden soll, hat Wrobel auch für den Laien die Bedeutung der Sondergerichte dargelegt: Es war „eine Justiz, die das staatliche Strafen vornehmlich benützt, um Angst zu verbreiten unter denen, die auf die Idee kommen sollten, die Wehrkraft des deutschen Volkes zu schwächen, und sei es nur durch Diebstahl, versuchte Brandstiftung oder vielleicht Mundraub. Dieses Gericht hat einen Kampfauftrag zu erfüllen.“

Todesurteile für den Diebstahl von Postsendungen

Dementsprechend verhielten sich die Sondergerichte, von Blutjurist Freisler als „Panzertruppen der Rechtspflege“ bezeichnet. Nicht noch einmal sollte passieren, was nach Nazi-Lesart den „unbesiegten deutschen Truppen im Feld“ widerfahren war: Der Dolchstoß in den Rücken durch die Heimat. Diesen kriegswichtigen Auftrag führten die Richter und Staatsanwälte (die Verteidiger spielten nur bei Gnadengesuchen eine Rolle) gewissenhaft aus. Wie weit die Sondergerichte auch nur vom Anschein einer unabhängigen Justiz entfernt waren, zeigt die Tatsache der sogenannten Vor- und Nachbesprechungen: Richter und Staatsanwälte am Bremer Gericht, das damals noch zum Bereich des Oberlandgerichts Hamburg zählte, kamen regelmäßig zusammen, um die anliegenden Fälle und das zu erwartende Strafmaß „aus nationalsozialistischer Sicht“ zu besprechen. Heraus kamen Vor-Urteile ganz im Sinne der herrschenden Ideologie.

Wie ihre Kollegen in ganz Deutschland taten die Bremer Juristen, was von ihnen verlangt wurde – sie funktionierten prächtig. Wrobel kommt zu dem Schluß: „Gewiß hat das Sondergericht auf handwerklich saubere Weise gearbeitet. Es hat nach Form und Inhalt Rechtsanwendung betrieben; seine Entscheidungen waren formal und nach außen hin immer die Entscheidungen unabhängiger Richter. Aber sie waren getragen von dem Willen, nationalsozialistisches Strafrecht im Geist des Nationalsozialismus anzuwenden.“ Für Reue sahen die Juristen auch nach Ende des Krieges keinen Anlaß: Durchweg stuften sie sich bei der Entnazifizierung als „wenig belastet“ oder als „Mitläufer“ ein. Die Akten des Bremer Sondergerichts sind nur deshalb fast vollständig erhalten, weil die Richter und Staatsanwälte der Kammern nicht einen Funken von Unrechtsbewußtseins über ihr Treiben zeigten.

Die erhaltenen Unterlagen von 539 Verfahren räumen auf mit dem Mythos, an den Sondergerichten hätten sich die jungen, ehrgeizigen Nazi-Richter ausgetobt. Das Gegenteil ist der Fall: Durch die Bank waren die 13 Richter und 11 Staatsanwälte im mittleren Alter und hatten mit der NSDAP vor der Machtübernahme nicht viel zu tun. Sie verstanden sich als deutsche Beamte, die dort ihre Pflicht zu tun hatten, wo der Staat sie hinstellte: Ihre Aufgabe war die Durchsetzung der staatlich-völkischen Ziele im Heimatland unter Bedingungen des totalen Krieges.

Die Aufarbeitung der braunen Justiz-Vergangenheit kommt spät: keiner der betroffenen Richter oder Staatsanwälte ist mehr in Amt und Würden. „Wir haben das gemacht, sobald wir konnten“, meint Wrobel, Jahrgang 1946. Denn bis in die 70er Jahre saßen ebendiese Juristen auf den bestimmenden Posten der Justiz und verhinderten, daß jemand in ihrer Vergangenheit stocherte. „Inzwischen ist das herrschende Meinung.“

Wie in der gesamten bundesdeutschen Justiz gingen auch in Bremen die Karrieren der Nazi-Richter ohne große Unterbrechung weiter. Die Juristen der Sondergerichte stiegen unaufhaltsam auf. Ein besonders deutliches Beispiel für die ungebrochene Tradition der Juristen ist der Staatsanwalt am Sondergericht Egon Zander: Während dieser Zeit brachte er einen evangelischen Pastor vor Gericht und erreichte dessen Verurteilung zu drei Monaten Zuchthaus. Der Vorwurf: Kanzelmißbrauch.

Karriere nach dem Krieg: Vom Sonderstaatsanwalt zum Bremer Justizsenator

Pfarrer Rudolph Brock aus der Stephani-Gemeinde Süd, die sich zur Bekennenden Kirche zählte, hatte in einem Gottesdienst für die von den Nazis verfolgten evangelischen Priester und Theologen beten lassen. Kritik an staatlichen Entscheidungen stand unter Strafe, wie das Gericht ausführte: „Für jeden unbefangenen Zuhörer mußte notgedrungen der Eindruck entstehen, daß die von den staatlichen Maßnahmen Betroffenen um ihres christlichen Glaubens willen verfolgt worden seien, daß es im Dritten Reich nicht mehr nach Gesetz und Recht zugehe, sondern daß ein Willkürregiment herrsche und daß der Staat insbesondere die Glaubens- und Gewissensfreiheit seiner Volksgenossen mißachte. “ Staatsanwalt Zander, der vom Gericht eine weitergehende Bestrafung für den Pastor gefordert hatte, machte im Nachkriegsbremen eine ganz außergewöhnliche Karriere: Er wechselte als Landgerichtsrat auf die Richterbank und ging in die Politik: Von 1955-1959 saß er für die CDU sogar im Senat – ausgerechnet als Senator der Freien Hansestadt Bremen für Justiz und Kirchenfragen. Auch die Bremische Evangelische Kirche (BEK) vergab dem Juristen offenbar seinen Kampf gegen die Bekennende Kirche: Sie weigerte sich nicht etwa, mit Zander zusammenzuarbeiten – im Gegenteil: Auch unter seinen protestantischen Glaubensbrüdern und –schwestern war Zander ein geachteter Mann und stieg für die BEK zum Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in ganz Deutschland auf.

Bernhard Pötter

„Strafjustiz im totalen Krieg – Aus den Akten des Sondergerichts Bremen 1940 bis 1945“, Band 2, Hans Wrobel, Henning Maul-Becker, herausgegeben vom Senator für Justiz und Verfassung, steintor-Verlag, 286 Seiten, 29,80 Mark.