„Mir fehlt bloß ein Bein“

Gesichter der Großstadt: Detlef Eckert zählt im Hochsprung zur Spitzenklasse / Nach einem Unfall wurde Sport für ihn überlebenswichtig  ■ Von Frank Kempe

Zum Höhenflug setzte Detlef Eckert bereits im Kindesalter an: Rekordverdächtige 1,29 Meter überwand er nahezu mühelos als Zehnjähriger bei einem Hochsprung-Wettkampf in seinem Geburtsort Halberstadt. Ein Dutzend Jahre später, mittlerweile stattliche 1,97 Meter groß und Vorzeige- Athlet des SC Magdeburg, schraubte er sich mit einem Fosbury-Flop über die auf 2,15 Meter liegende Latte – seine Bestleistung. Verdammt lang her zwar, doch noch heute überspringt Eckert ein Mannsbild von etwa durchschnittlicher Körpergröße – im fortgeschrittenen Alter von 43 Jahren und vor allem: mit nur einem Bein.

Der Wahl-Berliner Eckert, der bei der zur Zeit laufenden Leichtathletik-WM der Behinderten in den Disziplinen Hochsprung, Kugelstoßen und Mehrkampf antritt, gehört in diesen Sportarten seit Jahren zur Spitzenklasse der Oberschenkelamputierten. Als einer der Stars der an der Spree trainierenden Leichtathleten mit Handicap, der bei den Paralympics 1992 in Barcelona Silber im Kugelstoßen und Bronze im Mehrkampf holte, will der Vorsitzende des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland selbstredend auch diesmal wieder aufs Treppchen. Allein schon deshalb, weil er jetzt schon ein wenig vom Start bei den Paralympics 1996 in Atlanta träumt: „Die Grundlagen für die Teilnahme in Atlanta müssen bei der WM geschaffen werden“, sagt Eckert. Vor allem eine Medaille im Hochsprung peilt der gelernte Sport- und Geschichtslehrer an; er will buchstäblich wieder hoch hinaus, nachdem er in Barcelona in seiner Lieblingsdisziplin gepatzt hatte. „Wenn ich jetzt gut bin“, hofft der Vollblut-Sportler, „dann bleibe ich im A-Kader.“ Der „vergessene Sieger“, als den er sich im neuen Deutschland manchmal sieht, hat den Siegeswillen nicht verloren.

Die in die Jahre gekommene Sportskanone ist kaum zu bremsen. Für Eckert, der als Referent für Behindertenfragen der Bundestagsfraktion der PDS zuarbeitet, ist körperliche Ertüchtigung nicht bloße Freizeitbeschäftigung oder Ausgleichsmaßnahme zum schnöden Büroalltag; und schon gar nicht Mord, wie es mancher Zeitgenosse glauben mag. Den Sport, sagt der dreifache Vater, brauche er einfach „zum allgemeinen Wohlbefinden“, gewissermaßen als eine Art Lebenselixier.

Geradezu lebenswichtig wurde das Körpertraining für den mit eisernem Willen ausgestatteten Pädagogen nach dem schweren Motorradunfall im August 1973, bei dem Eckert das linke Bein verlor: im Krankenhausbett, Wochen nach der Amputation, hatte er einen Pulsschlag von 190 in der Minute. Sein Ruhepuls hatte bis dahin bei 36 gelegen. Die Ärzte, die ihn nicht länger mit Schlafmitteln und allerlei anderen Pillen ruhigstellen wollten, wiesen ihm immer öfter den Weg zur Turnhalle: „Da habe ich es dann abtrainiert“, meint Eckert lapidar, als sei nichts dabei gewesen. „An manchen Tagen bin ich zwanzigmal das Fünf-Meter- Seil hoch.“ Kraftraum und Schwimmhalle wurden sozusagen sein zweites Zuhause. Nie steckte Eckert auf – damals wie heute ewiger Bezwinger des inneren Schweinehunds.

Nach dem folgenschweren Verkehrsunfall geriet er ins Schleudern, nicht aber aus der Bahn. Eckert, der noch 1972 wegen einer Verletzung die Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen in München für die DDR nur knapp verpaßte, mußte ganz von vorne anfangen. Neben dem Lehrerstudium, das er inzwischen aufgenommen hatte, rackerte sich Eckert auf Sportplätzen ab, bis er wieder in die Weltspitze vorstieß. Der Trainer und Talent-Scout, der ihn 1961 entdeckt und ihm eine große sportliche Zukunft verheißen hatte, sollte recht behalten.

Der Ausnahmeathlet, der 1982 den Schuldienst quittierte und statt dessen an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED in Berlin seinen Doktor in Wirtschaftsgeschichte machte, scheint mittlerweile auch ein wenig erfolgsverwöhnt zu sein. Daß er vor zwei Wochen in Schwetzingen deutscher Meister im Kugelstoßen wurde, davon erzählt er nur beiläufig und geradezu nüchtern. Vielleicht aber ist eben das seine Art, mit dem Druck umzugehen, den er selbst mit seinen hochgesteckten Zielen und seine Vereinskameraden vom Treptower SV Turbine mit ihrer Erwartungshaltung auf ihn ausüben. Dort trainiert Eckert, der in seiner knapp bemessenen Freizeit Perry-Rhodan-Romane verschlingt oder Musik der sechziger Jahre lauscht, täglich anderthalb Stunden.

Nur nicht jetzt, wo doch WM- Zeit ist, jene Zeit eben, wo er seine rote Socke herauskramt. Seit Jahren streift Eckert das weithin sichtbare Markenzeichen bei Wettkämpfen über den rechten Fuß. Einst eher Ausdruck eines gewissen Hangs zum Aberglauben, ist es inzwischen auch ein wenig Trotzreaktion, daß er sie anzieht. Denn immer häufiger halten Kollegen dem PDS-Angestellten vor, mit der Wahl der Sockenfarbe ein politisches Bekenntnis ablegen zu wollen. Ärgerlich macht ihn das, genauso wie er wütend wird, wenn er sich nicht als Leistungssportler, sondern als Mitleidsempfänger behandelt fühlt. Denn Eckert hält es mit Sportsfreund Gunther Belitz, der da einmal sagte: „Ich bin nicht behindert, mir fehlt bloß ein Bein.“