Gähnende Leere und gnadenlose Sonne

Auch am Sonntag verfolgten nur wenige Berliner die Leichtathletik-WM der Behinderten im Olympiastadion als Zuschauer / Die 1.300 Sportler aus 63 Ländern mußten fast allein für Stimmung sorgen  ■ Von Plutonia Plarre

High-noon im Berliner Olympiastadion. Gähnende Leere im weiten Rund unter gnadenloser Sonne. Nur auf der Schattenseite sind einige Bankreihen spärlich besetzt. Daß in der Sportarena die ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaften der Behinderten stattfinden, interessiert nur ganz wenige Berliner. Und so ist es den 1.300 Athleten aus 63 Ländern selbst überlassen, für Stimmung zu sorgen. Auf dem Zeitplan des Vormittags stehen die 100-Meter- Läufe spastisch gelähmter Männer der Schadensklassen T35 und T37. Daß sie Probleme mit der Koordination der Bewegungen haben, ist nicht zu sehen, als sie beim Startschuß loshechten. Der Iraner Abbas Mohseni Zadeh jagt mit 13,03 Sekunden als erster durchs Ziel. Das Publikum auf den spärlich besetzten Rängen klatscht und jubelt. Erst als die Läufer langsam auf dem Rasen zurückgehen, fällt auf, daß einer sein Bein nachzieht, ein zweiter seine Füße nicht gerade setzen kann und ein dritter scheinbar unmotiviert mit den Armen schlenkert.

Auf der anderen Seite findet das Diskuswerfen der Damen Schadensklassse T34 statt. Die Frauen brauchen Hilfsmittel zum Gehen, können aber allein stehen und ihre Arme normal bewegen. Nach mehreren Durchgängen, die Zwischenergebnisse werden durch den Lautsprecher angesagt, stellt die Dänin Susanne Smidt mit 19,40 Metern einen neuen Weltrekord auf. Das Publikum applaudiert möglichst lange und laut.

Wie bei jeder Sportveranstaltung sind die besten Plätze im Olympiastadion auch bei den behinderten Leichtathletik-Weltmeisterschaften den Ehrengästen vorbehalten. Doch auch hier Ödnis und Leere weit und breit. Dabei werden unmittelbar vor der Ehrentribüne die Medaillengewinner gekürt. Am Sonntag vormittag sind es unter anderem die Speerwerfer der Schadensklasse T56: Schädigung in der Steißbeinregion, gute Bewegungsfähigkeit einer Seite, Oberschenkel können gegen den Rollstuhl und Füße auf die Fußrasten gedrückt werden. Der Iraner Mohammad-Reza Mirzayee, der 38,04 Meter geworfen hat, nimmt die goldene Plakette im Rollstuhl unter den Klängen der iranischen Nationalhymne in Empfang.

Der Startschuß für den 1.500-Meter-Lauf der hochgradig sehbehinderten Frauen durchbricht die Stille. Die Deutsche Claudia Meier, Inhaberin eines Weltrekords, geht auf der Aschenbahn in Führung. „Claudia, Claudia“ brüllt ein Zuschauer vorne an der Absperrung und schwenkt eine mit Luftballons geschmückte Berliner Fahne. Diese entpuppt sich beim näheren Hinsehen als der Bär mit der Mauerkrone, das Wahrzeichen der Ostberliner zu DDR-Zeiten. Der Mann, der sie schwenkt, heißt Friedhelm Lennerts und ist dadurch bekannt, daß er seit geraumer Zeit Mahnwachen mit wechselnden Inhalten – für Bosnien, die Kurden, gegen Rassismus – am Brandenburger Tor veranstaltet. Lennerts gesteht: „Ich kenne Claudia nicht.“ Er beklatsche alle behinderten Sportler, egal welcher Nation, weil er es „zum Kotzen“ finde, daß die Berliner diese Weltmeisterschaft so ignorierten. Zum Beweis dafür, daß er auch die kommenden Tage auf der Tribüne sein wird, zückt er seine Dauerkarte.

Neben Lennerts sitzen drei Tunesier und trommeln wild auf ein Bongo. Es sind der Wirt einer Pizzeria, dessen Cousin und ein Freund. „Wir kommen aus Solidarität jeden Tag bis zum Schluß“, versichert der Cousin Fekih Raouf. Ein Buchhalter einer Wohnungsbaugesellschaft macht die Gruppe der Jubel-Berliner komplett. Die geringe Zuschauerzahl ärgere ihn wahnsinnig, sagt der 35jährige. Die Ignoranz gegenüber dem Sportwettkampf der Behinderten sei typisch deutsch. „Am allerdeutschsten ist Deutschland in Berlin.“ Ein 26jähriger Kaufmann findet es „ein Glück, daß Berlin die Olympiade nicht bekommen hat“.

Draußen vor dem Stadion macht sich ein 100-Meter-Läufer aus den USA in der Mittagsglut auf den Heimweg zum Hotel. Seine beiden 24.000 Dollar teuren Bein- Prothesen ermöglichen ihm einen geradezu beschwingten Gang. Daß so wenige Besucher gekommen sind, findet er „sehr traurig“. Aber das könne sich in den kommenden Tagen noch ändern, übt er sich in höflichem Optimimus.