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In Haiti regiert der Gwo Neg

Im Karibikstaat stößt man überall auf Angst. Für viele sind die USA die letzte Hoffnung: als Fluchtziel oder als Interventionsmacht  ■ Aus Gonaives Thomas Schmid

Bedächtig öffnet der Mann den riesigen eisernen Schrank im alten Schuppen. Dann zerrt er an einer der vier großen Schubladen. Sie klemmt. Schließlich gibt sie nach, und es verbreitet sich ein penetrant süßlicher Gestank. „Das sind die Folgen des Embargos“, knurrt Gustave Loriston. Es gibt keinen Diesel mehr, der die Kühltruhen im Leichenhaus von Gonaives, einer Stadt an der Küste Haitis, mit Strom versorgen könnte. Und es herrscht tropische Hitze. Die halb geöffnete Schublade gibt den Blick auf einen Kopf frei, der zwischen zwei Füße eingeklemmt ist. „Seit dem Embargo“, erläutert der Krankenhausarbeiter, „sterben die Menschen wie Fliegen, wir müssen jetzt immer zwei in einem Kühlfach unterbringen.“ In der Schublade rechts unten sind fünf Kinderleichen gestapelt. Der Anblick bleibt dem Reporter freundlicherweise erspart.

Das Krankenhaus selbst bietet ein desaströses Bild. Viele unbelegte Betten ohne Matratzen, einige wenige Patienten, die jammern und röcheln. In der Ecke ist ein bis auf die Knochen abgemagerter Aidskranker abgestellt. Auf dem nackten Steinboden im Korridor liegt eine ältere Frau mit völlig entblößter Brust. Im leeren Gebärsaal liegt das Werkzeug herum wie in jeder beliebigen Autoreparaturwerkstatt – verrostet und verschmutzt. „Medikamente gibt es seit dem Embargo so gut wie keine mehr“, entschuldigt ein Arzt die Zustände und die Unterbelegung, „und so gehen halt die Patienten, wenn sie irgendwie können, nach Hause“. Oder kommen schon gar nicht mehr her.

„Alles Propaganda“, sagt ein Krankenpfleger später, „es ist pure Schlamperei, das Gesundheitsministerium kümmert sich einen Dreck um die Versorgung, und das hiesige Personal hat längst resigniert – aber meinen Namen dürfen Sie nicht erwähnen!“ Tatsache ist, daß Medikamente nicht unter das Embargo fallen. Tatsache ist auch, daß viele Ärzte eines Tages einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen sind – weil man ihnen nun schon den dritten Lohn nicht ausgezahlt hat oder weil sie als Sympathisanten Aristides, des Armenpriesters, den 1990 zwei Drittel der Haitianer zum Präsidenten wählten und den die Militärs ein halbes Jahr nach Amtsantritt von der Macht putschten, abtauchen mußten.

Über 2.500 Personen sind Menschenrechtsorganisationen zufolge seit dem Militärputsch vom September 1991 aus politischen Gründen ermordet worden. Allein in den letzten sechs Wochen waren es im Großraum Port-au-Prince neunzig – eine Zahl, die nur die recherchierten und dokumentierten Fälle wiedergibt. 300.000 Anhänger des gestürzten Präsidenten, so schätzt die „Kommission für Gerechtigkeit und Frieden“ der katholischen Kirche, haben ihr Zuhause verlassen und halten sich irgendwo auf dem Land versteckt. Und Zehntausende haben der Misere und dem Terror die riskante Flucht über die haifischverseuchte Karibische See vorgezogen.

Kibe ist einer von ihnen. Die Warnungen, die Stanley Schrager, der Pressesprecher der US-Botschaft in Port-au-Prince, täglich in kreolischer Sprache über haitianische Privatsender verlesen läßt – „die USA sind nicht das Paradies“ –, hat er in die Winde geschlagen. Bestenfalls ist er nun schon in Miami, schlimmstenfalls von Haien gefressen, vielleicht ist er auch in einer Zeltstadt in Guantánamo, dem US-Stützpunkt auf Kuba, zwischengelagert und trauert seiner Familie nach.

Der geht es dreckig. Soldaten haben die Holzhütte in einem Armenviertel von Gonaives, in der Kibe groß geworden ist, kurz und klein geschlagen. „Zunächst haben sie einfach reingeballert“, berichtet Kibes Vater und zeigt die Einschußlöcher in den Brettern der Reste der Außenwand, „dann haben sie verdroschen, wen sie erwischen konnten.“ Drei Tote habe es an diesem Tag gegeben, erzählen die Anwohner. Präzisere Nachfragen verhindert ein handfester Streit. Man befürchtet, daß das Gespräch mit dem Fremden dem Viertel nur neuen Ärger einbringt. Wenn zwanzig Leute zusammenstehen, ist sicher ein Spitzel dabei. Und vor den Attachés, den bewaffneten Schlägerbanden und zivilen Handlangern der Armee, haben sie alle Angst. Die Menschentraube löst sich so schnell auf, wie sie sich gebildet hat. „Verstehen Sie uns nicht falsch“, sagt Kibes Vater zum Abschied, „Sie gehen weg, nach Frankreich oder Deutschland – wir müssen bleiben.“

Gonaives, die Stadt, in der Haiti zwölf Jahre nach dem großen Sklavenaufstand gegen die Kolonialherrschaft der französischen Revolutionäre 1804 seine Unabhängigkeit verkündete, die Stadt, in der 1985 nach dem Mord an drei Schülern eine Protestbewegung entstand, die ein Jahr später Jean- Claude Duvalier alias Baby Doc außer Landes jagte, dieses Gonaives ist heute eine Ansammlung von Dreck, Elend und Angst.

Auf dem Land ist die Angst überall mit den Händen zu greifen. Die Macht liegt hier wieder wie zu Zeiten „Papa Docs“ und „Baby Docs“, die das Land drei Jahrzehnte lang mit Mord und Terror regierten, fest in der Hand der Chefs de section, der lokalen Chefs der Armee. Sie sind Polizeichef, Richter und Steuereintreiber in einer Person, und in vielen Dörfern haben sie sogar ihr ganz privat betriebenes Gefängnis. In den Städten sind ihnen die Attachés zu Diensten, auf den Dörfern die Chouket Lawouze, die der Staat nicht bezahlt, weil es sie offiziell nicht gibt. Und so holen sie sich ihren Lohn eben selbst – auf eigene Faust. Der Gwo Neg (großer Neger, mächtiger Mann), wie der Chef de section im Volksmund heißt, deckt sie allemal.

„Es gibt keine Journalisten mehr in Gonaives“, klagte im Juni 1992 Monseigneur Constant, Bischof der Stadt, „sie mußten fliehen, sie sind in Gefahr, es gibt keine Sicherheit.“ Der konservative Würdenträger ist gewiß über jeden Verdacht erhaben, für den progressiven Aristide Sympathien zu hegen. Doch die Zeiten haben sich noch verschlimmert. Im Juli 1994 verweigert der Bischof das Gespräch mit Journalisten. „Sie müssen verstehen“, erklärt ein Pater, der schon sieben Jahre mit ihm zusammenarbeitet, „wir leben in einer schwierigen Situation.“ Immerhin sind auf Constants Amtsbruder in Jérémie, Bischof Romelus, schon einige Attentate verübt worden. Zwar ist Monseigneur Constant kein „Roter“ wie Romelus, der einzige Bischof Haitis, der die Präsidentschaft Aristides begrüßte. Aber man kann nie wissen. „Und passen Sie auf“, gibt der Pater, der im übrigen auch nicht reden will, mit auf den Weg, „unter den Fahrern der Journalisten gibt es viele Spitzel, auch unter den Übersetzern.“

Ein längeres Gespräch zu führen ist auf dem Land in der Tat nicht einfach. Die meisten Leute sprechen nur kreolisch, und fremden Übersetzern mißtrauen sie in der Regel. Aber auch die Minderheit, die neben ihrer Muttersprache Französisch spricht, scheint jede längere Konversation zu meiden. Die Erfahrung ist immer die gleiche. Die Leute suchen nach irgendeinem Vorwand, nach zwei Sätzen das Gespräch abzubrechen. „Die werden uns nachher ausfragen“, entschuldigen sich die Mutigeren, wenn sie sich dünnmachen. „Die“, das sind die Attachés, die Chouket Lawouze, die offenbar befürchten, daß die Einheimischen auspacken.

Insofern kommt eine Reifenpanne ganz gelegen. Daniel hat sein Werkzeug – einen Wagenheber, ein Eisenrad, einen Hammer, zwei eiserne Hebel, ein kleines Gefäß mit glühender Holzkohle und einen Beutel Flicken – am Straßenrand stehen. Nachdem der Wagen gehoben und das Rad abmontiert ist, wuchtet er mit einigen Schlägen den Reifen von der Felge, holt den Schlauch raus, flickt das Loch, preßt den Flicken zwischen Kohlegefäß und Schlauch, legt den Schlauch wieder in den Reifen und diesen um die Felge, nimmt die Fahrradpumpe, pumpt und montiert das Rad – und all das in einer Viertelstunde. In einer Viertelstunde läßt sich so ganz nebenbei vieles sagen: Daniel macht nächste Woche das Abitur, sein Bruder ist nach Port-au-Prince geflohen, der Preis für Bananen ist in zwei Monaten auf das Fünffache gestiegen, letzte Woche ist im Nachbardorf ein Katechist entführt worden, die meisten Freunde Daniels hoffen auf eine Invasion der Amerikaner. „Wir hier sind alle für die Veränderung“, sagt er zum Abschied – „Veränderung“ ist hier allgemein Synonym für „Aristide“, dessen Namen auszusprechen man sich offenbar abgewöhnt hat – und zieht ein Foto aus seiner Tasche. Es ist ein Bild des gestürzten Präsidenten vom Format einer halben Postkarte – das Bild, das die meisten Bootsflüchtlinge der US-Küstenwache zeigen, wenn sie aufgefischt werden. Es soll beweisen, daß sie aus politischen Gründen abgehauen sind.

„Entweder wir gehen zu ihnen, oder sie kommen zu uns“, sagt Robert. Wenn es keine US-Invasion gibt, will der dreißigjährige Lehrer damit sagen, wird die Flucht über die Karibische See anhalten. In seinem Dörfchen bei St. Marc an der Küste sind die Boat people das Gesprächsthema Nummer eins. 500 haitianische Dollars, umgerechnet 250 Mark, haben die Flüchtlinge pro Kopf für einen Platz in einem der oft kaum seetüchtigen Boote bezahlt. So viel verdient Robert in drei Monaten. Bis vor kurzem war es jedem Haitianer freigestellt, sein Land zu verlassen. Das Problem waren die Grenzbeamten der Dominikanischen Republik und die Einreisebestimmungen der US- Regierung. Inzwischen verlangt die Regierung in Port-au-Prince von ihren Bürgern Ausreisevisen. Das heißt: Die Bootsflucht ist nun illegal, was das Unternehmen allerdings kaum schwieriger macht, nur teurer. „Die Soldaten“, sagt Robert, „machen beide Augen zu und beide Hände auf.“ Wer nicht mitspielt, wird festgenommen. Die Freilassung kostet 250 haitianische Dollars.

„Nur eine amerikanische Invasion wird diese Massenflucht stoppen“, beteuert Robert. Er selbst will nicht abhauen – sein Vater ist gestorben, seine Mutter ist schwer krank, und so muß er für die jüngeren Geschwister sorgen –, aber eine Invasion amerikanischer Truppen würde er allemal begrüßen. Nein, auf Widerstand würden die bestimmt nicht stoßen. „Sobald sie kommen, ziehen unsere Soldaten die Uniform aus“, da ist sich Robert sicher, „unsere Soldaten können plündern, brandschatzen und morden, aber für einen Kampf Mann gegen Mann taugen sie nicht.“

Claudette Munroe, eine entschiedene Gegnerin des gestürzten Präsidenten Aristide, sieht die Sache der haitianischen Militärs noch längst nicht verloren. Die administrative Leiterin des Krankenhauses von Gonaives hält nicht den Mannesmut, sondern die technische Überlegenheit für entscheidend. „Die Amerikaner haben zwar Kampfflieger und moderne Panzer“, hatte sie zum Abschied gewarnt, „wir aber haben eine viel wirksamere Waffe entwickelt, das Aids-Pulver.“ Houngans, Voodoo-Priester, würden nachts auf dem Friedhof die Gebeine von Aids-Toten ausgraben und daraus ein Pulver herstellen. Ja, es sei auch schon ein Gegengift gegen dieses verheerende Pulver entwickelt worden. Aber das Rezept kennen nur die Voodoo-Priester.

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