Speichel, Blut und Sperma

Rechtzeitig zum Sommerschlußverkauf kommen die Benetton-Werbestrategen mit einem modischen Aids-Sonderheft an den Kiosk  ■ Von Wolfgang Stenke

Eine Hand im roten Latexhandschuh, der Mittelfinger hochgereckt zu jener Geste, die vulgo „Stinkefinger“ genannt wird. Darum gruppieren sich im Halbkreis vier Buchstaben. A, I, D, S – Aids. Das Titelbild einer Sonderausgabe von Colors, der Hauszeitschrift des italienischen Textilkonzerns Benetton. Untertitel: „ein Magazin über den Rest der Welt“. Zweisprachig, englisch, deutsch: „Hier geht's um Mode. Hier geht's um Sex. Hier geht's um Tod. Hier soll es wirklich um Aids gehen.“ „Let's talk about fashion. Let's talk about sex.“

Ein buntes Kompendium über eine tödliche Krankheit. 168 Seiten, für 6,50 DM am Kiosk zu haben, produziert nach allen Regeln professioneller Werbegrafik. Verschärft bebildert. Blut und Sperma im Vierfarbdruck, ganzseitig und garantiert echt. Desgleichen die Vergrößerung des HIV-Virus. Nur das Vaginalsekret, diese flüchtige Substanz, verweigerte sich der bildlichen Darstellung. Es trocknete beim Fototermin stets ein, da mußten die Veristen von Benetton sich mit ordinärem Hühnereiweiß behelfen. Aber sonst: alles echt – vom Kondomsortiment bis zur Karposi-Geschwulst, vom Latexslip aus der Pariser Sado-Maso- Boutique bis zu den 14 Medikamentenkapseln, die ein Aidskranker im New Yorker St. Vincent als Abenddosis zu sich nimmt. Alles echt: sogar die Benetton-Jeans auf Seite 74, Kapitel „Safer Sex“. Die trägt ein Paar, das zur Illustration einer garantiert risikofreien Sexualpraktik namens „Trockenbumsen“ die blaubehosten Schenkel verklammert.

Nur die letzten Ayatollahs des dialektischen Materialismus werden von dieser marginalen Demonstration des Product-Placement noch auf die simple Kategorie des unmittelbaren ökonomischen Interesses schließen. Benetton hat hier, wie auch schon bei seinen Plakataktionen, anderes im Sinn als schlichte Produktwerbung. Art-Director Oliviero Toscani: „Die Menschen sollen auf die Probleme dieser Welt aufmerksam werden.“

Dies allerdings nicht ohne die „United Colors of Benetton“. Im Prozeß der Erkenntnis soll der Konsument so ganz nebenbei der Tatsache innewerden, daß der italienische Pulloverproduzent ein Unternehmen der neuen und besonderen Art ist: kritisch, provokant, dynamisch, erfolgreich. „Corporate Identity“ heißt so was im Marketingdeutsch. Wir, so lautet die Botschaft, versorgen nicht die graue Masse der Verbraucher mit Strick- und Wirkwaren. Wir versehen eine Klientel, die ebenso clever, smart und problembewußt ist wie wir selbst, mit Accessoires für Trendsetter. Produkte, die mit Bedeutungen aufgeladen sind. Sie signalisieren Weltoffenheit, Vorurteilslosigkeit, Multikulturalismus, bilden die Schlüssel zu Erlebniswelten und Lebensstilen.

Die Mentalität, die Benetton mit der Hauszeitschrift Colors und generell in seiner Werbung anspricht, funktioniert als zynische Schwundform jener Zivilisationskritik, die mit der „Dialektik der Aufklärung“ in die Industriegesellschaft gekommen ist. Als herabgesunkenes Kulturgut hat die Kritik kapitalistischer Verblendungszusammenhänge die Werbeagenturen erreicht: die Habermassche Diskursethik am Tresen des Kreditinstituts – „reden wir darüber“. Die Fundamentalkritik der Frankfurter Schule ist zur Figur des kritischen Verbrauchers eingedampft worden, dessen Emanzipation darin besteht, für sich und sein Geld die maximale Gegenleistung zu fordern. Im Akt des Konsums möchte er als kritischer Zeitgenosse bestätigt werden: „Sparen und prima leben“ – konsumieren und dabei etwas für die „Umwelt“ tun. Deo im Pumpspray, Auto mit Kat, Plastik in die gelbe Tonne.

Mit der Anti-Aids-Werbung des Pulloverkonzerns ist diese Haltung verschwistert wie Hemd und Hintern. Der Hedonist der neunziger Jahre kauft sein 23. T-Shirt in den Farben der „beautiful people“ in dem schönen Bewußtsein, daß er trotz aller globalen Bedrohungen weiterhin auf der Überholspur leben kann. Schließlich kennt der aufgeklärte Konsument die Preise. Über Risiken und Nebenwirkungen informieren Arzt, Apotheker und das Haus Benetton. Mit Safer Sex sicher durch die unruhigen Zeiten des ausgehenden Jahrhunderts. Wo Talkmaster und Art-DirektorInnen jedes Gelaber mit dem Begriff der Kommunikation adeln, mag dann auch die Benetton-Zeitschrift Colors als genuiner Beitrag zu Aufklärung und Prophylaxe verstanden werden. Problem erkannt, Problem kleingeredet, Problem gelöst. – In diesem Sinne wünsche ich allen Klienten des Hauses eine angenehme Schnäppchenjagd im Sommerschlußverkauf.