Gefährlicher Ideologieersatz

■ Ein Brief des französischen Schriftstellers Rachid Mimouni an Taslima Nasrin

Liebe Taslima Nasrin,

ich schreibe Dir als algerischer Freund, den Du zwar nicht kennst, der aber sehr besorgt über Dein Schicksal ist. Wir sind am Ende dieses Jahrhunderts Zeugen einer extremen Zunahme verschiedener Formen von Intoleranz; es hat fast den Anschein, als sollten die aus der Mode gekommenen Ideologien ersetzt werden. In Ruanda, diesem winzigen afrikanischen Land, haben die Stammeskämpfe das Ausmaß eines Genozids angenommen. In Bosnien wird hartnäckig eine „ethnische Säuberung“ betrieben. In den ehemaligen kommunistischen Ländern bilden und entwickeln sich neonazistische Gruppen, während in Italien die Neofaschisten an die Regierung gekommen sind. In den muslimischen Ländern zeitigt der Integrismus verheerende Auswirkungen. Nachdem Khomeini die Fatwa über Salman Rushdie verhängt hatte, dauerte es nicht lange, bis die Nacheiferer zur Stelle waren. Du, liebe Taslima, bist jetzt deren Opfer.

Mehr als dreißig namhafte Intellektuelle sind bereits in Algerien erschlagen worden, wo sich ein wahrhaft mörderischer Zorn ausgebreitet hat. In der Türkei hat man einen Feueranschlag auf ein Hotel verübt, in dem sich die bekanntesten Schriftsteller des Landes aufhielten. Ägypten ist ebenfalls in diesen Irrsinn hineingeraten. Und die sudanesische Armee massakriert munter Christen und Gläubige aus dem Süden des Landes — mit dem Segen des Iran und mit dessen militärischer Unterstützung.

Die muslimischen Intellektuellen befinden sich in einer aussichtslosen Situation. Wenn sie die fehlende Demokratie jener Regime beklagen, in denen sie leben, oder die Verantwortungslosigkeit und Korruption der Mächtigen, müssen sie damit rechnen, Repressalien ausgesetzt zu sein. In den Augen der fundamentalistischen Fanatiker sollte über diese Leute gleich die Todesstrafe verhängt werden, sobald sie die erneut wiedergekehrte Barbarei auch nur zur Sprache bringen. Obwohl die Regierenden der muslimischen Länder wissen, daß ihre schlimmsten Feinde genau jene vom Islam Besessenen sind, die ihre Religion als Machtinstrument mißbrauchen, ist uns Schreibenden dennoch klar, daß die, die die Zügel des Landes in der Hand haben, sich jederzeit dem Druck einiger tausend Extremisten beugen werden, die zum Straßenkampf bereit sind. Weil die Regierenden darunter leiden, nicht über genügend Legitimität zu verfügen, schließen sie mit ihren radikalsten Gegnern Bündnisse. Dein Fall, Taslima, illustriert das auf traurige Weise.

Von einigen wenigen, bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, stellen die meisten westlichen Intellektuellen angesichts der zahlreichen Gefahren, von denen hier die Rede ist, einen eleganten Skeptizismus zur Schau, umhüllt mit dem Schleier literarischer Kultur. Sie drücken sich gerne so aus, daß es einem Feuerwerk aus Wortspielen gleicht. Wenn sie sich als Bittsteller im Rahmen öffentlicher Appelle in Zeitungen einsetzen, dann tun sie das gewiß eher für das Vergnügen, ihren Namen zu lesen, denn aus Überzeugung für die Sache, die zu verteidigen sie vorgeben. Die kleinen Dinge des literarischen oder privaten Lebens, ihres Milieus interessieren sie mehr als die Massaker in Bosnien oder Ruanda. Auch wissen sie ja ganz genau, daß ihr Leben nicht gefährdet wird durch das, was sie sagen oder schreiben. Die tatsächlich oft vehementen Äußerungen von Intellektuellen aus der Dritten Welt sind, ihrer Meinung nach, bedauerlich undistanziert.

Du, liebe Taslima Nasrin, bist, gegen Deinen Willen, zu einem Symbol im Kampf gegen die Intoleranz geworden. Viele von uns sind entschlossen, an diesem Kampf teilzunehmen.

Ich hoffe, daß ich Dir meine tiefe, ehrliche Solidarität nicht extra versichern muß, ebensowenig die einiger tausend anderer auf der ganzen Welt.

Rachid Mimouni

Rachid Mimouni ist Schriftsteller und lebt in Paris. Auf deutsch erschienen sein Erzählband „Hinter einem Schleier aus Jasmin.“ und der Roman „Tambéza“, beide Rotbuch.

Aus dem Französischen von Ina Hartwig