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Modell in Arbeit

Chuck Close im Kunstbau des Lenbach- hauses  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Mutig muß er sein, dieser Chuck Close, sein uraltes „Big Nude“ an den Anfang seiner retrospektiven Ausstellung zu hängen, ein billboardmäßiges Querformat einer liegenden Nackten, in nichts als Grautönen gemalt. Es ist nämlich mit Abstand das schlechteste Bild – er hatte sein Sujet, eine sehr spezifische Form des Porträts, noch nicht gefunden.

Das Bild ist so gehängt, daß die BesucherInnen, die über die schmale Rampe in den langgestreckten Raum herunterkommen, die weibliche nackte Figur mit ihren Blicken förmlich begehen müssen. Das Auffälligste ist dabei das Unspezifische des Gesichts, das – über den Körper hinweg – im Halbprofil in die Tiefe des Raumes hineinschaut. Alle anderen Gesichter dieser Ausstellung sehen die BetrachterInnen an. Deshalb fährt man auch zu einer Ausstellung von Chuck Close. Man möchte so sehr betrachtet werden, wie man gar nicht zurückbetrachten kann. Es geht um einen abstrakten Bereich von Scham.

Philip Glass, von Chuck Close 1969 als „Phil“ porträtiert, äußert in einem amerikanischen Fernsehfilm, daß er ein großes Unbehagen spüre, wenn er mit seinem fast drei Meter hohen Porträt in einem Raum sei. Dem Maler Close wiederum ist aufgefallen, daß die meisten der von ihm Porträtierten ihr Aussehen radikal veränderten, sobald sie das Bild gesehen hatten. Die Ähnlichkeit, auf die der Maler zielt, hat offenbar nicht die schmeichelnde Wirkung auf den „porträtierten Charakter“ wie die besten Porträts von Velazquez oder Modigliani.

Es ist eine technische Ähnlichkeit, die Close interessiert, vergleichbar vielleicht der Ähnlichkeit der Lichtensteinschen Comic- Ikonen mit den Comics, die die Vorlage waren. Close benennt das Paradoxon, wenn er sagt, daß seine Figuren den Menschen, die Modell gesessen hatten, unwillkürlich noch ähnlicher wurden als die fotografischen Porträts, nach denen er gemalt hat. Überprüfen können die BesucherInnen das nicht, weil die Fotografien gar nicht ausgestellt werden. Die technische Ähnlichkeit ist also nur von der malerischen Seite aus überhaupt zu erkennen; aber sie ist zu erkennen.

Achtundzwanzig Porträts in Schwarzweiß und in Farben: die Stärke einer Schulklasse, eine kleine Überforderung an das mimetische Gedächtnis; einige Doppelgänger. Die Eindringlichkeit der Gesichter läßt nach wie in einem Zeitkanal: Vom oberen Kopfende her blickt jener brillante Kopf von „Phil“, während von unten her der Künstler selbst mit zerbrochener Physiognomie zurückschaut. Er hat, über die vergangenen siebenundzwanzig Jahre, die Technik des Farbauftrags (auch schwarze Farbe ist Farbe) mehrmals verändert. Der schärfste Schnitt ist die Aufteilung des Malgrunds in Raster um 1973, der am besten sichtbare die Vergröberung des Rasters bis an den Punkt, an dem das Bild auch auf Distanz gesehen nicht mehr mit einer Fotografie zu verwechseln ist.

Alle Künstler, die im Laufe ihrer Karriere einmal als „Fotorealisten“ galten, haben sich auf winzige Segmente des fotografischen Verfahrens spezialisiert. Bei Chuck Close ist es die Situation im Fotostudio. Er läßt seine Modelle fotografieren und wählt dann ein Bild, das als Paßbild oder Porträt im Yearbook der Schule oder des Colleges so gerade nicht mehr durchgehen würde: etwas selbstvergessen schauen sie in die Kamera, meistens mit leicht geöffnetem Mund. Die Suggestion der großformatigen Bilder hat mit der Singularität der Situation zu tun; man sieht den hypnotisierenden Effekt von Kamera und Lichtern

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in den Gesichtern. Nicht der „Zufall“ oder der „Moment“ sind daran interessant, sondern diese eigenartige Entleerung des Modells in einer Situation, in der das Gegenüber (Fotografin oder Fotograf) nicht mehr ansprechbar ist, sich verbündet mit dem Vorgang, „der Arbeit“. Auch Leute, die gezeichnet werden, verfallen in diese Art Trance, aber die Überblendung der Gemütszustände im Prozeß des Zeichnens unterschlägt den Effekt. Close nutzt ihn, indem er ein einziges Foto zur Vorlage nimmt. Er bildet also als Maler eine Situation ab, die es in der Malerei ähnlich gibt, dort aber bis dahin nicht sichtbar geworden ist. Ginge es Close um den „Zufall“, um Unwägbares im fotografischen Verfahren, würde er Leute mit halbgeschlossenen Augen zeigen oder gezielt Unschärfen einsetzen, wie Gerhard Richter es tut.

Was Close, Jahrgang 1940, mit anderen wirksamen Künstlern der sechziger Jahre gemein hat, ist die Sehnsucht nach dem Rigiden, nach einem maschinenmäßig-regelhaften Ansatz: Warhol, Smithson, Lichtenstein, Judd. Leider macht die Münchner Ausstellung nur sehr spärliche Anstrengungen, die Entstehung der Rasterarbeiten in ihrem Kontext aufzuzeigen, während die späteren grob gerasterten Arbeiten massiv vertreten sind. Die Ausstellung ist durchaus eine Hommage an einen Künstler, der seit Dezember 1988 gelähmt ist und erst nach einjähriger Rehabilitation seinen Oberkörper wieder einigermaßen einsetzen kann: Pinsel hält er mit Manschetten, die um die Handwurzel laufen. Die Raster sind nun Felder von der Größe etwa einer auf Quadratformat gestutzten Streichholzschachtel – ganz deutlich sichtbare malerische Einheiten. Der linke Mundwinkel von „April“ (1990/91) zum Beispiel ist ein Rhombus in einem diagonal angelegten Raster: das Murmelblau seiner Mitte ist mit etwas Weiß aufgebrochen und zweimal von violetten und rotbraunen Bahnen umzogen. In die obere Spitze der Form läuft eine grasgrüne Spur. Die Ölmalerei, für Close zehn Jahre zuvor eine erste zaghafte Alternative zu den glatteren Techniken, steht nun in voller Blüte.

Ein fast unlösbares Problem sind dabei die Pupillen geworden, sie füllen ungefähr ein Raster. Manchmal macht Close es sich leicht (wie bei Aprils linkem Auge) und malt einfach einen schwarzen Punkt; dann versucht er wieder, die zentrale Dunkelheit an den Rand eines Rasterpunktes zu schieben, wobei unklare Ballungen entstehen. Sie interpretieren offenbar fotografische Phänomene (es gibt ja Dunkelheiten in fotografierten Augen, die die Pupillen tatsächlich kaum als solche erkennen lassen) – aber diese Art der Darstellung „zerfrißt“ den Blick, die zentrale wirksame Einheit des Porträts. Im besten Fall, wie bei seinem am Kopfende hängenden – schwarzweißen – Porträt, wirkt der Blick gebrochen, fast blind.

Der eigentliche Fund an der holprigen Wegstrecke dessen, was das Lenbachhaus geliehen bekam, ist das 1985er Porträt von „Fanny“, einer offensichtlich lebenslustigen älteren Dame, die ein gruseliges schwarzes Loch im Hals hat. Es ist das einzige Bild der Ausstellung, das zärtlich zu nennen ist. Die Tinte ist mit den Fingern auf den weißen Malgrund getupft, das Raster sind die Abdrücke vor allem des Daumens des Malers. Das Eleganteste sind die weißen Spuren auf den Lippen (Reflexe), weil sie nicht aufgetragenes Weiß sind (wie bei „Phil“), sondern mit äußerster Präzision ausgesparte Stellen, an denen der weiße Malgrund freisteht: Zen oder die Kunst, eine Fotografie zu fingerprinten.

Als „Retrospektive“ ist die Münchner Ausstellung enttäuschend, weil die großen Polaroid- Fotos aus den achtziger Jahren fehlen. Nicht nur, daß Chuck Close irgendwann begonnen hat, der Fotografie zu trauen, ist interessant – es wäre auch zu prüfen gewesen, ob die großen Triptychen mit Akten eines Tänzers und einer Tänzerin in irgendeiner nachvollziehbar physischen Relation zum malerischen Werk stehen. Allein die Rückkehr zum Akt suggeriert ja das Schließen eines Kreises.

So bleibt ein wichtiges Thema dieses Malers nahezu unsichtbar: die Physiognomie als Genderrätsel. Da gäbe es vielleicht Entdeckungen zu machen – ganz im Gegensatz zu einer parallelen Ausstellung des Münchner Kunstvereins, „Oh boy, it's a girl“, wo die Skandälchen der letzten Witney- Biennale im dritten oder vierten Aufguß plagiiert werden. Das hanebüchene Gefuchtel mit Pimmeln, Mösen und passenden Ersatzteilen gilt ja zur Zeit als politisch besonders korrekt. Aber Vorsicht, die Konkurrenz arbeitet, und zwar hart.

Chuck Close: „Retrospektive“. Kunstbau Lenbachhaus, München. Bis zum 11. September 1994. Katalog (deutsch/englisch bei Cantz) 88 DM, in der Ausstellung 52 DM. Mit einem wichtigen Beitrag von Robert Storr.

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