Schreibtischtäter sind auch Täter

Der Bundesgerichtshof korrigiert die Urteile gegen die Mitglieder des früheren Verteidigungsrates der DDR / Die Angeklagten waren „Hintermänner“ und keine Mitläufer  ■ Von Julia Albrecht

Berlin (taz) – Schreibtischtäter können sich nun nicht mehr auf die von ihnen behauptete Schuldlosigkeit berufen. In seinem gestrigen Revisionsurteil befand der Bundesgerichtshof (BGH), daß der ehemalige DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler (74), sein Stellvertreter Fritz Streletz (67) und der Suhler SED-Bezirkschef Hans Albrecht (74) als Täter zu bestrafen seien. Damit revidierte der BGH in Teilen das Urteil des erstinstanzlichen Landgerichts. Dies hatte die Taten der drei DDR- Oberen lediglich als Beihilfe und Anstiftung bewertet und war damit zu dem fragwürdigen Ergebnis gelangt, daß die Befehlshaber eine geringere Schuld treffe als die jungen Grenzschützen.

Der fünfte Senat des BGH vertrat die Auffassung, „daß es dem objektiven Gewicht des Tatbeitrages des Hintermannes an der Spitze einer Hierarchie nicht gerecht würde, wenn dieser nur Teilnehmer wäre, während die unmittelbar Handelnden, hier die Grenzsoldaten, wegen täterschaftlichen Handelns verurteilt werden müssen“.

Hinsichtlich der Strafhöhe folgte der BGH allerdings dem Urteil des Landgerichts und beließ es im wesentlichen bei den Haftstrafen zwischen fünf und siebeneinhalb Jahren.

Mit der gestrigen Entscheidung verabschiedete sich der Bundesgerichtshof von einer jahrzehntelangen Rechtsprechung, die sich vor allem bei der Nichtverurteilung von nationalsozialistischen Verbrechern bewährt hatte. Jene Tötungsbürokraten wurden – mit Blick auf ihre Schreibtische – grundsätzlich nur, wenn überhaupt, als Gehilfen verurteilt, niemals als Täter.

Das altbekannte Publikum im Saal, rund 50 DDR-Anhänger – unter ihnen auch der letzte DDR- Häuptling Egon Krenz – kommentierte den Spruch mit zynischem Lachen und bestätigte sich wechselseitig die schon bekannte Erkenntnis, daß nicht die DDR, sondern die BRD ein Unrechtsstaat sei.

Auch befand das Gericht – hierzu hatte es sich schon in einem Revisionsurteil gegen Mauerschützen geäußert –, daß die Angeklagten sich nicht auf die damals in der DDR geltenden Gesetze berufen dürften. Nach dem dortigen Grenzgesetz war es selbstredend erlaubt, auf Fliehende unter bestimmten Voraussetzungen zu schießen. Der Senat vertritt die Auffassung, daß das DDR-Gesetz wegen seines „offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte nicht geeignet war, die Täter zu rechtfertigen“. Auch damit formulierte der Senat einen klaren Standpunkt in einer altbekannten Auseinandersetzung bei der Ahndung von NS- Verbrechen. Während die bundesdeutschen Gerichte den NS-Größen durchweg zugute hielt, daß ihr Handeln (Morden) von den damals geltenden Gesetzen gedeckt gewesen sei, hatte der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch in einem Aufsatz kurz nach Kriegsende für ein anderes Rechtsverständnis plädiert. Gesetze dürften dann für die Anwender nicht rechtfertigend wirken, wenn ihr Inhalt mit der Gerechtigkeit in einen unüberbrückbaren Gegensatz geraten sei. Mit ihrer Rechtsprechung nahm das Gericht genau dieses Argument wieder auf.

Die drei Verurteilten, deren Haftbefehle nach dem Landgerichtsurteil vom September letzten Jahres bis zur Rechtskraft des Urteils außer Vollzug gesetzt worden waren, dürfen jetzt auf ein Schreiben des zuständigen Gefängnisses warten. Darin werden sie aufgefordert werden, sich binnen sieben Tagen zur Straffortsetzung einzufinden. Und vermerkt sein wird, wieviele Unterhosen, Zahnbürsten und Bücher sie mitbringen dürfen.