Kokain in den Zeiten der Rezession

Rückkehr in die „Goldenen Zwanziger“? Eine alte Droge feiert ihr Comeback / Zu Beginn des Jahrhunderts wurde Kokain als Allheilmittel verwandt / Innensenator setzt weiterhin auf Repression  ■ Von Peter Lerch

Murat kriecht auf allen Vieren. Unbeeindruckt von den anderen Fixern, die sich rechts und links von ihm ihre Schüsse setzen, stochert er mit einem abgebrochenen Zweig im Putz zwischen den Klinkersteinen, dreht leere Flaschen und alte Coladosen um, weil er hofft, darunter ein Päckchen Kokain zu finden. Eine Hoffnung, die jeglicher Grundlage entbehrt. Sie ist Teil seines Wahns. Denn wie Alkoholiker im Delirium weiße Mäuse sehen, wie Barbituratabhängige ihren Klappermann mit den obligatorischen Epilepsieanfällen verbringen oder wie Heroinsüchtige den Entzug mit einem barbarischen Turkey bezahlen, macht der Kokainist verschiedene Stadien geistiger Verwirrung durch, von denen eins die zwanghafte Suche nach verlorengeglaubten Kokspäckchen ist.

Ort des Geschehens: der „Jordangraben“, eine Grube an der Bahndammböschung, die zu den Gleisen hin von einer Backsteinmauer begrenzt wird. Hier, eine Steinwurfweite vom Bahnhof Zoo und nur wenige Schritte vom Haupteingang des Zoologischen Gartens entfernt, herrscht rege Betriebsamkeit. Ein Dutzend Junkies ist dabei, Injektionen vorzubereiten oder sich Kanülen in die vernarbten Venen zu stechen. Unter ihnen auffallend viele Ausländer. „Kokser“, sagt Markus abfällig. Er selbst hängt seit elf Jahren an der Nadel und finanziert seinen Heroin- und Kokainkonsum, indem er hier, praktisch unter den Augen der Polizei, dealt. „Wie kann man sich nur so gehen lassen!“ entrüstet er sich und weist mit einer Kopfbewegung auf den schmuddeligen Typen mit orientalischem Habitus hin, der mit weit aufgerissenen Augen aus dem Graben getorkelt kommt und ein bißchen so aussieht, als hätte man ihm gerade den Magen ausgepumpt. Dabei verkauft Markus selbst Kokain. „Ohne Cola biste hier nicht konkurrenzfähig“, erklärt er mit der kaufmännischen Kompetenz des Großdealers, der er definitiv nicht ist. „Die Leute wollen beides haben! Wenn du hier bloß mit Hero rumstehst, verkaufst du nichts.“

Fünfzehn Mark kostet das Päckchen Kokain bei Markus. Die Portionen hat er am Abend zuvor sorgfältig in Kunststoff eingedreht und mit dem Feuerzeug verschweißt. Wasserdicht, damit er sie im Mund behalten und bei einer Razzia runterschlucken kann.

Offensichtlich zieht sich der Gebrauch von Kokain längst durch alle Gesellschaftsschichten. Immer häufiger kommen „ganz normale“ Leute auf den Breitscheidplatz oder vor den Zoo, um sich ein paar Portionen des weißen Pulvers zu kaufen, erzählt Markus. Während wir noch reden, kommt ein Typ im Trainingsanzug und Goldkettchen um den Hals in Begleitung seiner Freundin und guckt Markus fragend an. Beide machen einen biederen Eindruck, und man würde ihnen rein äußerlich nicht mal den gelegentlichen Konsum von Hasch zutrauen. Man verständigt sich mit Blicken und knappen Gesten. Markus fragt: „Cola?“ Die beiden nicken, und Markus spuckt fünf Päckchen aus und kassiert sechzig Mark. Schon ist der nächste da. Auch er gewiß kein Fixer, sondern ein Dicker mit monströsem Bierbauch unterm Hawaihemd und vergoldetem Brillengestell. Er will „zwei Koks, zwei Hero“.

Rückkehr in die „Goldenen Zwanziger“? Schon einmal war Berlin Koks-Hauptstadt: Nachdem 1859 erstmalig Kokain aus den Blättern der Cocapflanze isoliert worden war, fing bereits 1862 die Darmstädter Firma Merck & Co mit der kommerziellen Produktion des Alkaloids an. Zunächst erlebte das „Spaßpulver“ seinen Boom in den USA, wo die Pharmacompany Park-Davis mit Merck in einen Konkurrenzkampf getreten war. Weil die Droge billig und in jedem Drugstore frei erhältlich war, schnupften um die Jahrhundertwende vor allem farbige Farm- und Fabrikarbeiter in den Südstaaten Kokain. Das städtische Proletariat bevorzugte kokainhaltige Getränke wie Whiskey mit Schuß oder Coca-Cola, das von dem Drugstorebesitzer S. Pemberton aus Atlanta zusammengebraut worden war.

In Europa sorgte zur gleichen Zeit der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud mit dem weißen Pülverchen dafür, daß er gut drauf war. Lange bevor er den Masturbationszwang als die „Ursucht“ des Menschen und das Unbewußte in jedermanns Seele entdeckte, war er ein richtiger Kokainfreak. Er trank es in Wasser gelöst, und weil es ihm gut gefiel, fing er alsbald an, Depressionen, den Halskatarrh, Blähungen, Antriebsschwäche und sogar das Verlangen nach Morphin damit zu kurieren. Noch 1884 pries er das Nasenpulver als „probates Mittelchen“ und sorgte dafür, daß seine Verlobte Martha mit selbigem versorgt war.

Bald war das Dope verbreiteter als heutzutage Valium. Man nahm es gegen Masern, Schwindsucht, Verstopfung und Stottern, gab es Kindern, Schwangeren und Greisen. Es dauerte nicht lange, und der „Schnee“ mauserte sich zum Partygag mitteleuropäischer Bohemienkreise. Erhältlich in jeder Apotheke, kostete ein Gramm gerade mal 50 Pfennige. In Berlin, dem kulturellen Zentrum der „Roaring Twenties“, putschte man sich ungeniert beim Charleston im Tanzpalast, und die Frauen mit Bubikopf und Zigarettenspitze gingen sich „mal eben die Nase pudern“, während die Männer „Kokolores“ redeten. Und auch der Gassenhauer „Mama, der Mann mit dem Koks ist da“ bezog sich gewiß nicht auf die Belieferung mit Heizmaterial. Der Maler und Zeichner Otto Dix, scharf beobachtender Zeitgenosse, brachte seine „Koksgräfin“ auf die Leinwand, und überhaupt bemühte sich jeder, die Folgen der Krise und der Inflation mit dem sprichwörtlichen „Tanz auf dem Vulkan“ zu vergessen.

Doch bereits zu dieser Zeit waren Konsum und Besitz des Rauschgiftes kraft internationaler Übereinkommen und dem Opiumgesetz von 1920 mit Strafe bedroht. Mit der Illegalität wurde es allmählich unerschwinglich, was dazu führte, daß das Kokain über Jahrzehnte, bis Mitte der sechziger Jahre, nur noch eine eher bescheidene Rolle in verschiedenen Subkulturen spielte.

Noch vor zwei Jahren war Kokain hier in der Stadt so gut wie gar nicht zu haben, und wenn, dann endlos verlängerter Stoff minderer Qualität, für den der User zwischen 280 und 350 Mark pro Gramm bezahlen mußte. Derzeit ist ein Gramm Kokain der Spitzenklasse bereits für 140 Mark zu haben. Neben den „Normalos“ greift das Koksen erst recht bei den Junkies um sich. Für die mit Polamidon substituierten Fixer, die von anderen Opiaten, einschließlich Heroin, keinen Kick mehr kriegen, ist das Spritzchen Kokain die einzige Möglichkeit, dem polamidonisierten Dauerdasein ein Glanzlicht aufzusetzen. Für die anderen ist der Kokain-Heroin-Cocktail wegen des Kicks ohnehin attraktiv.

Es gibt keine andere Droge, bei der die Suchtwirkung so von der Art und Weise der Einnahme abhängig ist wie beim Kokain. Die übliche und weitverbreitete Methode, eine Prise zu liften, ist, das Kokain mittels eines Löffelchens oder eines zusammengerollten Geldscheins durch die Nase hochzuziehen. Drei bis fünf Minuten nach der Einahme werden die Lippen taub, der Herzschlag wird ruhig und ein außerordentlich starkes Glücksgefühl setzt ein. Durch die verzögerte Aufnahme über die Nasenschleimhäute hält die euphorisierende Wirkung etwa 25 bis 40 Minuten an, bevor sie wieder abklingt. Die anschließende Mißstimmung und Mattigkeit fördert zwar den Drang, eine weitere Linie zu schnupfen, aber der Wiederholungswunsch ist durchaus auszuhalten.

Anders beim Spritzen: Intravenös in die Blutbahn gebrachtes Kokain verursacht eine explosionsartige Euphorie, den absoluten Kick, der allerdings nur sehr kurze Zeit anhält. Klingt er nach einigen Minuten wieder ab, treten praktisch sofort Unruhe, Angstzustände und heftige Depressionen ein, die den User nach einer weiteren Dröhnung gieren lassen. In diesem Zustand ist ein Kokser zu allem fähig, um an Geld für einen weiteren Schuß zu kommen.

Die neue Droge Crack wirkt genauso. Das in rauchbare Form gebrachte Koks gelangt ebenfalls in Sekundenbruchteilen in die Blutbahn und verschafft dem Konsumenten den Kick, ohne daß er sich dazu eine Nadel in den Arm stechen muß. Welche Folgen das Auftauchen von Crack in amerikanischen Großstädten hat, ist hinlänglich bekannt. Es ist damit zu rechnen, daß es über kurz oder lang auch hier in Berlin Crack geben wird.

Doch statt nach alternativen Wegen in der Drogenpolitik zu suchen und eine Legalisierung oder eine kontrollierte Abgabe an Süchtige in Betracht zu ziehen, produzierte eine effekthascherische Strafverfolgung von Süchtigen überfüllte Gefängnisse und belastet den Landeshaushalt jährlich mit Millionenbeträgen. Gesundheits- und Innenpolitiker stehen sich gegenseitig im Wege. Wenn Streetworker in einer überschaubare Szene Fuß gefaßt und Kontakte zu Süchtigen aufgebaut haben, befiehlt ein übereifriger Innensenator Polizeieinsätze gegen die eigentlichen Opfer der Drogen und zerschlägt die Szene. Mit dem fragwürdigen Erfolg, daß es statt ursprünglich zwei Rauschgiftszenen nunmehr deren fünf gibt. Spielte sich der Verkauf und Konsum der Drogen noch vor einigen Monaten hauptsächlich in der Gegend rund um das Kottbusser Tor und in geringerem Maße auch am Breitscheidplatz ab, hat die Heckelmann-Linie der Repression lediglich zu einer Zersplitterung der Szenen geführt. Heute kriegt man Kokain und Heroin am Bahnhof Zoo, im Tiergarten, am Kottbusser Tor, am Bülowbogen und vorwiegend nachts an der Kurfürstenstraße. Daß so ein Vorgehen die Entstehung und den Erhalt mafiöser Organisationen geradezu garantiert, liegt auf der Hand.