Sanssouci: Nachschlag
■ Heimatklänge '94 im Tempodrom: Ferus Mustafov aus Skopje
„Sei doch mal ehrlich“, sagt ein Kollege vor der Bühne, „im Grunde können wir diese Musik doch überhaupt nicht beurteilen. Die könnten in einer Fernsehshow auftreten, bei einer Hochzeit, in einem Striplokal oder auf einem ganz normalen Festival. Das kann Mainstream sein oder Underground.“
Wie so gern und oft geben die Heimatklänge uns auch in dieser Woche Rätsel auf. Festivalleiter Borkowsky „The Very Big“ Akbar sitzt wie ein angeschlagener Boxer hinter der Bühne – er versucht gerade seinen Körper durch den Genuß einer Flasche Soave zu entschlacken. Während in anderen Wochen die Musiker gern um die Veranstaltercrew – besonders natürlich um deren starken weiblichen Anteil – herumscharwenzeln, so sitzt die Truppe um Ferus Mustafov allein an einem runden Tisch und trinkt Dosenbier. Diesen gestandenen Herren aus der Gypsie-, Zigeuner-, wie auch immer Balkanmetropole Skopje, Mazedonien, würde man aber auch zutrauen, flaschenweise Becherowka in sich hineinzuschütten, den Blindmacher, den mir unlängst ein Kellner bei größter Hitze im tschechischen Speisewagen eines Zugs nach Hamburg einflößte (Veranstaltungstip: EC 178 Prag – Westerland, täglich 14 Uhr ab Zoo).
Weil Berlin seit Beseitigung der Zone und vor allem ihrer „Interzonenzüge“ völlig verwestlicht ist (die meisten behaupten dreist das Gegenteil), brauchen wir die Heimatklänge. Sie holen uns den Osten wie durch ein Fernglas vor die Tür – wir brauchen nur noch in den Tiergarten radeln (wo bleiben eigentlich die längst überfälligen Fahrradständer, Irene Mössinger?). Auf der Bühne also Ferus Mustafov, ein Multi-Instrumentalist, der gern Klarinette, Saxophon, Flöte und Gesang gleichzeitig bedient. In seinem Orchester gibt's gleich zwei Akkordeonisten, die den eher traditionellen Part übernehmen. Der Rest sind normale Popmaschinen wie Keyboard, Gitarre, Bass. Die ganze Mischung allerdings ist ziemlich strange. Man wird den Eindruck nicht los, daß diese Truppe selbst nicht weiß, was sie tut. Um wirklich die Traditionen ironisch zu brechen, agieren sie nicht anarchisch genug. Um einfach stinkelangweiligen Folklorekram zu machen, spielen sie wieder zu – volle Deckung, das grausige Wort kommt – schräg. Wenn sie Jazzer wären, würde man sie mit Carla Bley vergleichen und schrottig finden. Sind sie aber nicht, und so könnte man sich vielleicht auf Balkan-Trash einigen. Ganz merkwürdig wird's dann allerdings, wenn für einzelne Stücke die Bauchtänzerin Makedonka Dimitrovska oder eine Sängerin auftauchen. Dick geschminkt treten sie auf, und irgendwie passiert nichts. Am Ende gehen sie von der Bühne, möglichst breit lächelnd. Wenn sie hinter dem Bretterzaun verschwinden, wo sie nicht mehr vom Publikum gesehen werden, friert ihr Gesicht ein. Fernsehshow, Striplokal oder Hochzeit? Andreas Becker
Noch heute und morgen 21.30, Sonntag 16 Uhr, Tempodrom, In den Zelten, Tiergarten.
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