Sind die Lügen im Gewand versteckt?

■ „Der Weg der Hure“: Lesung und Barockopern-Show in Vollrads Tanzsaal

In der Postmoderne haben KünstlerInnen die Freiheit, sich aus den Töpfen der Geschichte ungehindert zu bedienen. Man nehme einen prominenten Text (G.C. Lichtenberg), einige Belcanto-Arien aus dieser Zeit und ein Berliner Hinterzimmer; dazu einen Sprecher, ein Klavier und eine Sängerin. Bei dieser Mischung herausgekommen ist am Mittwoch in Vollrads Tanzsaal „Der Weg der Hure“, eine Oper, in der das Leben der Prostiuierten Mary Hackabout nacherzählt wird.

Dieses Leben ist kurz und beispielhaft für das Schicksal gefallener Dorfjungfrauen. Als edle Einfalt kommt Mary in jungen Jahren nach London, wo sie natürlich ihre Unschuld verliert. Dann kommt es, wie es kommen muß: erst Mätresse, später Straßenhure, wird Mary alkoholabhängig und schließlich kriminell. Gefängnis und früher Tod sind die letzten Stationen dieses unerfreulichen, authentischen Schicksals. Anfang des 18. Jahrhunderts wird diese Lebensgeschichte zum erstenmal in Kupferstichen des englischen Malers William Hogart erzählt, der darin mit beißendem Spott die sittlichen Verfehlungen seiner Zeitgenossen bebildert. Diese frühen Karikaturen inspirierten einen anderen großen Spötter seiner Zeit: den Physiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg. In „Ausführliche Erklärung der Hogartischen Kupferstiche“ kommentiert Lichtenberg die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Hure mit jenem pointierten sozialkritischen und alltagsphilosophischen Blick, der auch seine – bekannteren – Aphorismen auszeichnet. Diesen bösartigen und humorvollen Text öffentlich vorzutragen ist durchaus verdienstvoll.

Mit der Erweiterung der Lichtenbergschen Vorlage zum Gesamtkunstwerk Oper haben sich die Ausführenden allerdings ein zu gewichtiges Erbe aufgebürdet. Dabei ist die Idee, durch Musik und szenische Darstellung Lichtenbergs Erzählung zu illustrieren, durchaus gut. Auch daß das in dieser No-Budget-Produktion mit wenigen Mitteln geschieht, ist im Sinne einer klaren und einfachen Aufführung, fernab von jedem Opernschwulst, erfreulich. Dennoch wird dieser Abend dem aufklärerischen Witz des Textes nicht ganz gerecht. Das liegt nicht am Sprecher. Die Tirade über die Gärungs- und Fäulnisprozesse im menschlichen Organismus etwa oder der Exkurs über die Vormachtsstellung des Stuhls gegenüber den anderen Möbeln trägt Raúl Gonzalez geistvoll und mit coolem Charme vor.

Auch in den Regieeinfällen steckt bisweilen grotesker Witz, wenn etwa die Schuhe des verstorbenen Liebhabers von der Decke baumeln oder der Sprecher mit der Lupe in dem Gewand der Hure nach versteckten Lügen sucht. Lichtenbergs Text wird durch den Kakao gezogen und dadurch ernst genommen. Diese Qualität wird durch das Hinzufügen der Belcanto-Arien (von Scarlatti, Pergolesi und anderen) gemindert (Gesang: Stella Valentin, Klavier: Gabriele Hellwig).

Zum einen wirkt der Griff in die Töpfe der barocken Musikgeschichte unmotiviert, da es inhaltliche Zusammenhänge nicht gibt. Zum anderen entsteht durch die Empfindsamkeit der gewählten Arien eine Innerlichkeit, die die Schärfe der Lichtenbergschen Vorlage abschwächt. Das stört den Spannungsbogen so sehr, daß das Publikum schon klatscht, bevor Mary unter der Erde ist. Lichtenberg aufzuführen ist eine wunderbare Sache. An diesem Abend wurden ihm aber leider die Giftzähne gezogen. Christine Hohmeyer

Noch heute, 20 Uhr, Vollrads Tanzsaal, Schönhauser Allee 177, Prenzlauer Berg.