Turbo mit Handbremse

Massen von Bond, aber auch Bernhard, Shakespeare, Kleist und Rüben beim Theaterfestival in Avignon  ■ Von Jürgen Berger

Der große Krieg ist vorbei, der Frieden danach erscheint in Edward Bonds Trilogie „War Plays“ schrecklicher als jeder Krieg – und der Zustand der Menschheit monströs. Im ersten Stück „Rot, Schwarz und Ignorant“ läßt Bond dann auch tatsächlich ein „Monstrum“ auftreten, ein verkohltes Wesen, das in Alain Francons Inszenierung für Avignon unter Strom zu stehen scheint, bis in die Fingerspitzen vibrierend. Die Szenenfolge der Trilogie, deren Einzelstücke Francon zu einer langen Bond-Nacht verzahnte, erinnert zu Beginn stark an Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, allmählich aber entfernt Bond sich vom Lehrstück, und auch Francon, der seit zwei Jahren das Nationale Theaterzentrum in Annecy & Chambéry leitet, inszeniert eine immer dichtere postkatastrophale Atmosphäre.

Ein junger Soldat erhält den Auftrag, ein Baby aus seinem eigenen Viertel zu töten und beginnt mit dem Morden in der eigenen Familie. Bonds raffinierter Kunstgriff: Er verweigert erst dann den Gehorsam, als er eine leere Zigarettenschachtel aufheben soll. Er wird exekutiert. Francon hat in dieser Passage brutalen militärischen Drill inszeniert, wie zu Beginn von Stanley Kubricks „Full Metal Jacket“. Vor den Zuschauern liegen noch das lange Endstück der Trilogie „Großer Frieden“ und die Wanderung einer verstörten Mutter durch eine zerstörte Welt, deren Kind vom eigenen Sohn getötet wurde. Valérie Dréville gelingt etwas Unglaubliches. Über Stunden ist sie eine eigensinnig alternde Frau, in sich gekrümmt und entschlossen, allein in der Wüste zu sterben, während die „Konservendosenmenschen“, so könnte man das Mittelstück übersetzen, in einer ironischen Schlußwendung eine neue Gesellschaft gründen.

Die lange Bond-Nacht war eine der diesjährigen Marathonsitzungen in Avignon, den stärksten Eindruck des 48. Theaterfestivals hinterließen konzentrierte Inszenierungen wie Alain Miliantis „Bingo“ von Edward Bond. Wir sind in Shakespeares Garten, bei Milianti eine stilisierte Greenaway-Idylle. Der Meister ist in die Jahre gekommen und treibt Geschäfte, ab und zu kommt Kollege Ben Jonson auf einen Whisky vorbei. Wenn sich allerdings eine junge Frau im Garten verstecken will (heute würde man sie Asylsuchende nennen), hört der Spaß auf. Shakespeare liefert sie aus. Jean- Damien Barbin könnte glatt als Donald Sutherland durchgehen und macht aus Shakespeare einen jener Intellektuellen, die mit Sorgenfalten gegen die Prinzipien verstoßen, für die sie öffentlich eintreten.

Theaterschriftsteller zu Theaterfiguren zu machen hat Tradition, in Avignon mußte nun auch Thomas Bernhard in einer außergewöhnlich geglückten Bühnenadaption journalistischer Arbeit mit dem Titel „Krista Fleischmann interviewt Thomas Bernhard“ dran glauben. Die österreichische Fernsehjournalistin interviewte den Radikalironiker in den 80er Jahren, Laurence Roy und Aurélien Recoing bearbeiteten die Interviews für die Bühne und spielen einen Bernhard, der sich preisgibt und sofort wieder hinter ironischen Masken versteckt, sowie eine Interviewerin, die merklich vom Gegenstand ihres professionellen Interesses angezogen wird, trotzdem aber Distanz wahren muß. Das Ganze mit geringstem Aufwand.

In einem der Schwerpunkte des Festivals, Euripides' „Andromache“ und „Alkestis“, ging es um Eroberungsfeldzüge und Frauen, die als Kriegsbeute verschleppt, als Flüchtlinge in Königshäusern beneidet und angefeindet werden – eine Thematik, die dann als Travestie in Kleists „Amphitryon“ zu sehen war. Der zurückkehrende Kriegsherr selbst wird zum Fremden im eigenen Haus, da Gott Jupiter schneller war und Gattin Alkmene in Gestalt Amphitryons erfolgreich bis ins Ehebett nachgestiegen ist. Stéphane Braunschweig setzt in seiner intelligenten Inszenierung die Krise des Individuums auch im Bühnenbild sinnfällig um. Unüberwindbare Klüfte öffnen sich, Claude Duparfait, der als Sosias glänzt, wird wie in einer Zerreißprobe zwischen zwei Stahlleitern aufgespannt. Braunschweig, eine Hoffnung des französischen Theaters, leitet das Nationale Theaterzentrum in Orléans, ein anderer gab seinen Rückzug von der französischen Theaterszene bekannt: Jacques Lassalle, dessen Schritt vor allem eine Reaktion auf die Nicht-Verlängerung seines Vertrages als Leiter der Comédie Française durch den neuen Kultusminister Jacques Toubon ist. Es half nichts, daß Festivalchef Bernard Faivre d'Arcier demonstrativ zu Lassalle stand und ihn wie letztes Jahr die Eröffnung bestreiten ließ. Lassalles Inszenierung von Euripides' „Andromache“ hinterließ den Eindruck eines seltsamen Gemischs von Geglücktem und Mißglücktem, ähnliches gilt für die „Alkestis“-Inszenierung des jungen Jacques Nichet, Leiter des Nationalen Theaterzentrums in Montpellier.

Auffällig, daß mit Ausnahme von Francon, Braunschweig, Milianti und Roy/Recoing unentschiedene und mutlose Inszenierungen dominierten, hoffentlich kein Zeichen dafür, daß Frankreichs Theatermacher in Zeiten schmaler Budgets auf Nummer Sicher gehen. Christian Schiaretti etwa, der das Theater in Reims leitet, hat sich mit Alain Badious „Ahmed le Soubtil“ eine Modernisierung der „Streiche des Scapin“ vorgenommen, aus der multikulturellen Vorstadtgroteske aber lediglich ein leise schnurrendes Komödchen gemacht. Stuart Seide (er kam aus Brooklyn nach Paris) inszenierte das wahrscheinlich erste Drama Shakespeares und längste Stück der Theatergeschichte, „Heinrich VI“. Im Mittelpunkt Englands Kinderkönig, der in die Regierungsgeschäfte wie in zu große Schuhe wächst, wenn in Avignon wieder einmal das Ende einer Premiere direkt ins Frühstück einmündet, hat Seide über weite Strecken lediglich Shakespeares Plot nachvollzogen – mit eingeschaltetem Turbo versteht sich, während Stanislas Nordey mit angezogener Handbremse in Avignon einfuhr und Hervé Guiberts einzigen Theatertext „Vol mon dragon“ zu einer langen Theaternacht aufblähte. Guibert ist als Romanautor bekannt und dokumentierte den eigenen Aidstod, Nordey inszenierte über Stunden selbstverliebte Improvisationen über den homoerotisch-poetischen Text, der eigentlich nur eine Stunde Theater hergibt. Ob Faivre d'Arcier wußte, was da auf ihn zukam? Er will, so war zu hören, nächstes oder übernächstes Jahr das deutsche Theater zum Länderschwerpunkt des Festivals machen. Interessant könnte für ihn sein, daß an deutschen Bühnen gleich zwei neue Stücke des in den letzten Jahren stark vernachlässigten Edward Bond inszeniert werden: „Männergesellschaft“ und „Ollies Gefängnis“, letztes Jahr in Avignon uraufgeführt.