Der 20. Juli: Ein Mahnmal des Versäumten

Oft verbirgt sich gerade im Heroischen das Unheroische, das Nicht-in-sich-selbst-fußen, die nicht erworbene Zentralität des Gewissens und im eigenen Opfer gleichsam die Schuld, das Notwendige versäumt zu haben. Und damit das eigene Opfer und leider auch dasjenige vieler anderer erst nötig gemacht zu haben.

Zuwenig bezeichnend und doch vielsagend, daß der 20. Juli eben als solcher bezeichnet wird: als 20. Juli. Der 20. Tag eines Monats ist es, der hier erinnert wird, ein bestimmter Tag und damit ein bestimmter Ort an diesem Tag: das „Führerhauptquartier“.

Mich aber interessiert das Jahr dahinter, die vierstellige Zahl die uns gemahnt, daß es noch andere, eine Vielzahl von Tagen und Orten, von 20. Tagen eines Julis gegeben hat. Vor dem 20. Juli 1944. Und daß der 20. Juli Teil der Geschichte, Teil einer Geschichte ist und damit auch Wirkung und nicht nur Ursache. Und als singuläres Ereignis nicht zu begreifen.

1944.

Seit wie vielen Jahren befindet sich Deutschland im Krieg? Seit fünf Jahren. Moskau? Stalingrad? Die alliierten Bomberverbände? Die Landung in der Normandie?

Der 20. Juli 1944 folgt ihnen nach, ist durch sie bedingt.

Ortswechsel. Vom „Führerhauptquartier“ nach Plötzensee in Berlin.

Gedenktafeln. Wehrkraftzersetzende Sabotage durch einen Arbeiter. Todesstrafe. Offen geäußerte Zweifel am „Endsieg“, von der Nachbarin zur Anzeige gebracht. Todesstrafe. Druck eines Aufrufs zum Widerstand gegen Hitler. Todesstrafe. An Fleischerhaken aufgehängt. Gefilmt dabei, bis sich die Kameramänner weigerten.

Und wann ist dies geschehen? An vielen Tagen, vielen hundert Tagen, denen gemeinsam ist, daß sie lange vor dem 20. Juli 1944 der Geschichte Zeugnis davon geben, was das menschliche Gewissen inmitten seiner Einsamkeit vermag. Das Richtige zum falschen Zeitpunkt tun zu wollen, heißt auf die Geschichte bezogen, das Falsche getan zu haben. Der 20. Juli ist ein Mahnmal des Versäumten.

Wo waren die Rommels und Canaris, als man gewählte Repräsentanten des Volkes ins Gefängnis warf, entwürdigte, verkrüppelte, physisch vernichtete?

Wo waren die Stauffenbergs, als man deutschen Juden, Millionen von Deutschen also, Menschenwürde, Besitz, Heimat und Leben nahm, Tag für Tag, Monat auf Monat, ununterbrochen, jahrelang?

Lange vor dem 20. Juli 1944.

Wo waren diese Männer, als man Verträge und Versprechen brach, Polen auslöschte, Frankreich unterwarf?

Wo waren sie, als Männer mit Uniformen, die den ihren glichen, in Rußland Tod über Männer und Frauen brachten, weil diese lesen konnten und damit des Kommunismus verdächtig waren?

Hitler war lange vor dem 20. Juli 1944 ein Tyrann, und lange vor dem 20. Juli 1944 hätten ihn deutsche Militärs gefangensetzen und töten können und müssen.

Daß sie es nicht getan haben, mag darin gründen, daß Hitlers Vision vom Krieg um des Krieges Willen ein Stück weit auch die ihre gewesen sein muß. Und daß sie ihm deshalb nicht widerstanden.

Daß sie es nicht getan haben, davon künden die vielen Tage der Schande, die vielen Orte des Grauens. Daß sie es nicht tun wollten oder konnten, vor dem 20. Juli 1944, darin liegt die eigentliche Tragik ihres Opfers. Roberto Philipp Lalli,

Frankenthal

Der 20. Juli, ein Gedenk- oder Bedenktag zum Stolzsein? Sie waren Offiziere, die gegen Hitler erst aufbegehrten, als die Lage aussichtslos schien, der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, dem Ansehen Deutschlands im Ausland wegen. 1938 hatten sie Hitlers Pläne noch unterstützt. Demokraten waren sie nicht von Geburt an, sagte Kohl. Fürwahr! Sie hatten mit der demokratischen Weimarer Republik nicht viel am Hut. Sie träumten von einem Deutschland im Jahre 1913.

Unser Held Graf von Stauffenberg entschied sich erst spät zum Widerstand. Doch sind sich die Konservativen um Rühe und Kohl bewußt, daß sie einen Tyrannenmörder ehren? Es stellt sich die Frage: Wann ist ein Putsch legal? Wann darf sich das Volk seiner Tyrannen entledigen? Die Widerstandskämpfer vom 20. Juli versuchten eine Revolution von oben. Ein Volksaufstand, wie im November 1989 in der DDR war 1944 nicht möglich. Es fehlte das Volk dazu. Aber es waren nicht nur Soldaten, die Widerstand gegen das Hitlerregime leisteten. Es waren „Oppositionelle“, im positiven Sinne. Verschwiegen und vergessen werden die „Kleinen“, die sich weniger spektakulär – aber nicht weniger – für Freiheit und Menschenwürde einsetzten. Mehr und größere Widerstandskämpfer als Deutschland haben beispielsweise Italien und Spanien hervorgebracht.

Was im besonderen Graf von Stauffenberg ehrt, ist, daß er aus Gewissensgründen zum „Verräter“ wurde. Robert Brunner, Augsburg