Wenn Mädchen Bäume besteigen

Taslima Nasrin hat die Mullahs herausgefordert. Für die Frauenbewegung Bangladeschs heißen die Hauptfeinde Armut und Unwissen.  ■ Von Sonja Schock

„Es ist völlig klar, daß diese Unruhestifterin eine Hure ist.“ Die Botschaft geht über das internationale Datennetz E-Mail um die Welt. Gemeint ist Taslima Nasrin; der Schreiber ist ein Herr Abdullah Faizu Rahman aus Bangladesch. Aus Georgia/USA kommt eine Nachfrage: „Sehr geehrter Herr Rahman, warum ist Taslima Nasrin eine Hure?“ Keine Antwort. Dafür meldet sich ein anderer Kommunikationsteilnehmer aus Bangladesch zu Wort. „Bevor wir Parasiten wie Taslima (die vom westlichen Irrglauben lebt, daß wir eine fehlgeleitete Gesellschaft seien) unsere Ziele und sozialen Strukturen festlegen lassen, sollten wir zweimal darüber nachdenken, ob wir unserer Nation einen Gefallen tun, wenn wir die westliche Kultur imitieren“, schreibt Ishfaqur Raza. Für ihn ist Nasrin ein Fremdkörper in der Gesellschaft Bangladeschs, eine Agentin der westlichen Dekadenz.

Auch die Frauenbewegung des Landes tut sich schwer mit der frechen Autorin. Denn Nasrin schießt scharf, nicht nur gegen die Patriarchen des Landes, sondern auch gegen die Frauen, denen sie in ihren Zeitungskolumnen mehrfach Lethargie und politisches Desinteresse vorgeworfen hat (siehe Dokumentationskasten). Die Stoßrichtung der Schriftstellerin ist eine andere als die der Frauenbewegung Bangladeschs. Während Nasrin in ihren Artikeln, Interviews und literarischen Werken immer wieder die Würde der Frau und ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung einklagt und die Religion als Repressionsinstrument geißelt, liegt der Schwerpunkt der Frauengruppen auf rechtlichen und entwicklungspolitischen Verbesserungen. Die Feministinnen, die Nasrin öffentlich unterstützen, haben Angst, daß sich die Wut der Mullahs jetzt auch gegen sie richten könnte. „Der ganzen Bewegung wird großer Schaden zugefügt“, sagt Farida Akhter, Frauenrechtlerin und Vorsitzende der alternativen Entwicklungsorganisation Ubinig.

Die Frauenbewegung hat in Bangladesch eine lange Tradition. Bereits Anfang des Jahrhunderts formierten sich die ersten Frauengruppen im Kampf gegen den britischen Kolonialismus. Auch im Befreiungskrieg gegen Pakistan mischten die Frauenorganisationen mit und gewannen dadurch weiter an Ansehen. Noch unter pakistanischer Besetzung konnten die Frauen eine Verbesserung des islamischen Familienrechts durchsetzen. Dieses beruht in Bangladesch seitdem nicht mehr auf der islamischen Scharia. Zur Zeit kämpfen die moslemischen und hinduistischen Frauen gemeinsam dafür, die Gesetze komplett zu säkularisieren und auch auf die anderen Religionsgruppen auszudehnen. Eine wesentliche Verbesserung würde dies vor allem den Hindu-Frauen bringen. Die Hindus, die mit 12 Prozent die zweitgrößte Gruppe stellen, leben, anders als im stärker säkularisierten Indien, in Bangladesch noch immer nach den alten Hindu-Gesetzen. Diese verbieten den Frauen die Scheidung ebenso wie eine zweite Heirat und schließen sie zudem vom Erbrecht aus – eine Regelung, die Feministinnen aller Gruppen als untragbar empfinden. Doch auch das derzeit für die Moslems geltende Recht möchten sie weiter zugunsten der Frauen verändern. Entsprechende Vorschlagspapiere sind bereits formuliert worden; die Anwältinnen der Bewegung treiben das Anliegen vorwärts. „Wir haben eine Kultur des Protestierens und Forderns, und wir haben eine sehr reiche Kultur der Säkularität in Bangladesch“, erläutert Kushi Kubir, Vorsitzende der „Association of Development Agencies in Bangladesch“, eines Dachverbands von 500 regierungsunabhängigen Entwicklungsorganisationen. Sie glaubt nicht daran, daß Bangladesch jemals ein religiöser Staat nach fundamentalistischer Prägung wird.

Wie viele andere Aktivistinnen verbindet sie ihr feministisches Engagement mit entwicklungspolitischer Arbeit. Ein naheliegendes Betätigungsfeld angesichts der Tatsachen, daß Bangladesch mit seinen 110 Millionen Einwohnern zu den zwanzig ärmsten Ländern der Welt gehört, 60 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, die Analphabetenquote 65 Prozent beträgt und die durchschnittliche Lebenserwartung bei 51 Jahren liegt. Neben internationalen Verbänden gibt es diverse Projekte auf Graswurzelebene. Einige von ihnen versuchen gezielt, die Situation der Frauen zu verbessern. Eine dieser Initiativen ist Ashota, ein privates Projekt, das sich um alleinstehende Arbeiterinnen in Dhaka kümmert. Mehr als hundert der etwa 500.000 landflüchtigen Frauen, die nach Dhaka kommen, um für einen Hungerlohn in einer der vielen Textilfabriken zu arbeiten, kann Ashota mittlerweile beherbergen und mit billigen Mahlzeiten versorgen. Durch kostenlose Fortbildungsmöglichkeiten sollen zudem ihre beruflichen Chancen verbessert werden.

Auch die Weltbank hat die Frauen Bangladeschs als Zielgruppe ihrer Entwicklungspolitik entdeckt. Ihnen wird eine Schlüsselrolle im Entwicklungsprozeß zugeschrieben. Um das Bildungsniveau zu heben, wurde ein Programm in die Wege geleitet, das jungen Mädchen den Besuch von weiterführenden Schulen ermöglicht. Frauen werden außerdem als Mitarbeiterinnen von Familienplanungs-, Gesundheits- und Hygieneprogrammen eingesetzt. In vielen Dörfern sind sie es, die über die sachgerechte Benutzung und Wartung der Trinkwasserpumpen und Latrinen wachen. Denn die HelferInnen aus dem Westen haben erkannt, daß die Frauen viel eher bereit sind, sich für diese Einrichtungen verantwortlich zu fühlen. Kein Wunder: Anderenfalls müßten sie das Wasser aus weit entfernten Quellen heranschleppen. Die neuen Aufgaben verleihen ihnen in den ländlichen Gemeinden eine Bedeutung, die sie vorher nicht hatten. Sie widersprechen den traditionellen Vorstellungen der Landbevölkerung, die die Rolle der Frau in der Hausarbeit sehen.

Die Fundamentalisten sehen durch solche Änderungen ihre Werte und Traditionen nicht bedroht. Und sie schlagen zurück: gut organisiert und meist an mehreren Stellen des Landes gleichzeitig, wie Kushi Kubir beobachtet hat. Einige Entwicklungshilfeorganisationen berichten, daß Schulen zu den Hauptangriffspunkten gehören; 1.445 sollen bisher zerstört worden sein. Außerdem verbieten die Geistlichen eine Gesundheitsversorgung während der Schwangerschaft und Impfungen. Letzteres wird damit begründet, daß die Hilfsorganisationen Schweinefett ins Impfserum mischen würden, um die Moslems zu Christen zu machen.

Obwohl sich die Angriffe der Mullahs und ihrer Anhänger keineswegs nur auf ausländische Organisationen beschränken, betrachten viele Frauen in Bangladesch die religiösen Eiferer nicht als ihr Hauptproblem. „Warum sorgen wir uns um ein paar Mullahs, die Unsinn reden“, fragt sich Farida Akter, „wir müßten zur Zeit viele andere Dinge diskutieren, die sehr wichtig sind.“ Für die bedrohte Autorin stellt sich die Situation anders dar. Sie hat schon immer die Macht von Islam und Tradition als elementare Beschränkung für die Frauen empfunden. In einem Satz bringt sie ihre Wut treffend zum Ausdruck: „Diese verdammte Gesellschaft glaubt, wenn Mädchen Bäume besteigen, dann stirbt der Baum.“