Uran im Fausthandschuh

In Rußland locken schlecht gesicherte Atommüllhalden die Dealer geradezu an / Auch Experten warnen vor Selbstbedienungsladen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Was alles kann geschehen, in einem Land, in dem Atom-Spezialisten und -Arbeiter nicht einmal ein Zehntel der im Ausland üblichen Gehälter bekommen? Wenn, wie zuletzt nach der Beschlagnahmung von sechs Gramm Plutonium im badischen Tengen, der Verdacht laut wird, es gebe einen schwunghaften Handel mit atomarem Material aus Rußland, dann folgen stets empörte Dementis seitens russischer Politiker. So erklärte Anfang dieses Monats Innenminister Viktor Jerin, in Rußland sei kein einziger Fall von Diebstahl radioaktiven Materials bekannt, das sich zum Bau von Atomwaffen eigne.

Immerhin gab Jelzin eine ganze Reihe von Fällen zu, in denen Uran und Plutonium aus der Industrie verschwand. Diese Möglichkeit wiederum bestritt der Minister für Atomenergie, Wiktor Michajlow wiederholt. Dabei bemängelte schon Anfang dieses Jahres die staatliche Atominspektion der Russischen Föderation in ihrem Bericht an den Präsidenten nicht nur die unzulängliche Sicherheit der meisten Reaktoren, sondern vor allem den „katastrophalen Zustand“ der atomaren Kriegsflotte. Das Flottenpersonal, so die Kommission, gehe mit dem atomaren Material nach der „Trial-and-Error-Methode“ um, und seitens der Führung werde nicht einmal der Versuch gemacht, die Sicherheitsvorkehrungen auf das geforderte Niveau zu bringen.

Der Glaube der russischen Politiker an die Vertrauensseligkeit ihres Volkes und der Weltöffentlichkeit muß sehr groß sein, denn in- und ausländische Massenmedien strotzen nur so von Berichten, denen zufolge ihr Land als gewaltiger atomarer Selbstbedienungsladen für die Mafia erscheint. In allen diesen Fällen spielt der sogenannte menschliche Faktor die entscheidende Rolle.

Die beiden jungen deutschen Fernsehjournalisten Adrian Geiges und Andre Zalbertus haben in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Russland Explosiv“ die Zustände in und um den Atom-Hafen Murmansk geschildert. Da wird Atommüll auf einem Eisbrecher zwischengelagert, auf dem kaum kontrolliert Dutzende von Hafenarbeitern aus und ein gehen. Eine Endlagerungsstätte für dasselbe Material, umgeben von einem löcherigen Bretterzaun und bewacht im wahrsten Sinne des Wortes für ein Trinkgeld von einem besoffenen Rentner, wartet unbeleuchtet in der Tundra auf Godot.

Adrian Geiges war auf das Thema aufmerksam geworden, als im Oktober 1992 die deutsche Polizei auf dem Hauptbahnhof von Frankfurt am Main einen rucksackgroßen Bleicontainer mit Strontium 90 und Caesium 137 aus einem Schließfach fischte. Den Stoff hatte ein polnischer Dealer im Rotlichtviertel der Stadt im Auftrag russischer Verkäufer angeboten. Geiges gelang es einen Monat später, mit einem Fernsehteam, dieselben radioaktiven Materialien vorübergehend von einem russischen Atomeisbrecher in Murmansk zu entführen. Er drang auch ungehindert auf das Gelände des beschriebenen Endlagers nahe der Stadt ein, machte aber im Interesse der eigenen Gesundheit von diesem Umstand keinen weiteren Gebrauch.

Ein ähnliches Experiment unternahmen im Herbst 1993 Journalisten der Tageszeitung Nowaja Jeschednjawnaja Gaseta. Sie gaben sich als Interessenten für spaltbares Material aus und erstanden auf dem schwarzen Markt zur Waffenherstellung geeignetes, hochangereichertes Plutonium. Sie bekamen auch den Sprengkopf einer SS-20- Rakete angeboten, der sich in Privathänden befand. Das Team deckte auch einen Fall auf, in dem in der Stadt Elektrostahl Uran gleich milchkannenweise aus einer Fabrik herausgetragen worden war.

Die Affinität russischen spaltbaren Materials zu Lebensmittelbehältern belegt auch der allerjüngste Bericht des Föderalen Gegegenspionagedienstes, der im Lande viel Staub aufwirbelte: Ein Fleischer aus der schönen Stadt Puschkin bei Sankt Petersburg dachte sich, in dieser Zeit des schnellen Geldes müsse sich doch auch für ihn eine Möglichkeit eröffnen, ohne Schweiß zu Reichtum zu gelangen. Wozu hat man schließlich, fragte er sich, einen Verwandten in einer Geheimfabrik des Ministeriums für Atomenergie? Der Verwandte zeigte sich zugänglich und schmuggelte nach und nach eine hübsche Menge zu 90 Prozent angereicherten Urans-235 in seinem Fausthandschuh an den Werkswächtern vorbei. Als er schließlich auf der häuslichen Kartoffelwaage drei Kilo abwiegen konnte, übergab er den Stoff dem überglücklichen Fleischer. Der führte ihn in der Eisenbahn heim, füllte das Zeug teils in einen Metallbehälter, teils in ein Halbliterglas für eingemachte Gürkchen und bewahrte das Ganze, damit es nicht vorzeitig verdarb, im häuslichen Kühlschrank auf.

Hin und wieder entnahm er Warenpröbchen, um sie gemeinsam mit seinen Freunden, einem Rohrleger und einem Arbeitslosen, auf den Sankt Petersburger Wochenmärkten anzubieten. Dort wurde schließlich im Juni der Gegenspionagedienst auf die Männer aufmerksam.

Wenn in Rußland schon bester radioaktiver Stoff von den Orten seiner offiziellen Herstellung und Verwendung verschwinden kann, ohne daß dies allzuschnell auffällt, so kräht nach den radioaktiven Abfällen erst recht kein Hahn. Der Niedergang der KPdSU führte unter anderem auch dazu, daß in Moskau die Akten über illegale Atommüllhalden und undeklarierte Strahlungsherde im Stadtgebiet vernichtet wurden.

Über die hatten nämlich die Bezirksexekutivkomitees der Partei Buch geführt und seit Anfang der siebziger Jahre 1.200 davon aufgespürt. Jetzt ist der radioaktive Müll wieder vergessen und zugeschüttet.

Dies und die Tatsache, daß von den 50 in der Hauptstadt befindlichen Anlagen für Kernspaltungs- Experimente keine einzige ausreichend gesichert ist, fixierten kürzlich ehemalige Mitarbeiter der staatlichen Atominspektion in einem offenen Brief an die Deputierten der Duma. Sie baten darin um die Einstellung der atomaren Experimente in Moskau, weil „die reale Möglichkeit einer atomaren Katastrophe“ bestehe. Auf die Antwort warten sie jedoch immer noch.