■ Tour de France
: Kannibale, Dachs, freundlicher Vampir

Die Tour de France 1994 ist seit einer knappen Woche Geschichte, und während der souveräne Sieger, Miguel Induráin, ein wenig die Beine hochlegt und sich überlegt, ob er den Stundenweltrekord angreifen oder doch lieber in den Bergen von Sizilien Weltmeister werden soll, rauchen bei den Veranstaltern der Frankreich-Rundfahrt des nächsten Jahres schon wieder die Köpfe. Ihre Sorge gilt eben diesem Miguel Induráin und seiner eklatanten Überlegenheit, die von Tour zu Tour größer zu werden scheint.

Was hatten sie sich nicht alles überlegt, um den Spanier in die Schranken zu weisen: mehr Pässe denn je, ein Bergzeitfahren, Schwierigkeiten in schneller Folge. Alles, was der Konkurrenz vermeintlich nützen konnte, wurde eingebaut, am Ende kam eine der brutalsten Streckenführungen aller Zeiten heraus. Doch der Schuß ging nach hinten los. Während die größten Rivalen Induráins reihenweise schlappmachten, mußte dieser zwar hin und wieder die Zähne mehr als sonst zusammenbeißen, meisterte aber alle Schikanen mit gewohnter stoischer Unerschütterlichkeit. Sein vierter Sieg in Folge war mit 5:39 Minuten vor Pjotr Ugrumow der bisher überlegenste, und hätte er es darauf angelegt, wäre sein Vorsprung am Ende möglicherweise ähnlich riesig gewesen wie der von Eddy Merckx 1969 (17:54) oder Bernard Hinault 1981 (14:34).

Doch der nüchtern-kühle Induráin ist weder „Kannibale“, wie Merckx von der ehrfürchtigen Kollegenschaft genannt wurde, noch „Dachs“ wie Hinault. Der „schöne Dunkle“, wie ihn Italiens Presse tituliert, ist eher eine Art Vampir, der seinen Rivalen auf freundliche Art die Kräfte aussaugt und sie mit einem netten Lächeln am Wegrand zurückläßt. Was Merckx wollte, war Gesetz im Peloton, und Hinault scheute sich nicht, widerborstige Fahrer auch mal in den Straßengraben zu befördern. Dem allseits beliebten Induráin dagegen ist jede Tyrannei fremd, auch wenn er sich bei der letzten Tour erstmals zum „Patron“ aufschwang und das Feld mittels vorwurfsvoller Blicke dirigierte.

Inzwischen haben es sogar die beiden nörgelnden Alten, Hinault und Merckx, aufgegeben, darüber zu lamentieren, daß der Spanier zu defensiv fährt und keine Etappen gewinnt, außer beim Zeitfahren. Sie sind nunmehr bereit, Induráin in ihre illustre Runde der größten Radfahrer aufzunehmen. Dieser gehören bislang Merckx, Hinault und der verstorbene Jacques Anquetil an, die alle die Tour fünfmal gewannen. „Der Spanier“, lobt Merckx, „hat eine solch große Sicherheit, Intelligenz, Kraft und Kondition, daß er sich bald dem ,Klub der Fünf‘ anschließen wird.“ Hinault meint sogar, daß Induráin die Tour sechsmal gewinnen kann: „Das wäre der Everest.“

Den Rang des Eddy Merckx als Tour-Dominator schlechthin wird der freundliche Vampir aus dem Baskenland aber auch dann nicht gefährden können. Während Induráin bei der Frankreich-Rundfahrt sechsmal als Helfer von Pedro Delgado übte und zweimal aufgab, bevor er zum ersten Mal gewann, siegte der Belgier, ebenso wie Hinault, gleich bei seiner ersten Tour. Bei nur sieben Teilnahmen triumphierte Merckx fünfmal, fuhr 96 Tage im gelben Trikot (Induráin: 47), holte 34 Etappensiege (10), gewann dreimal das grüne Trikot des Punktbesten (0) und zweimal die Bergwertung (0). Davon kann Miguel Induráin nur träumen. Wenn er denn jemals träumen sollte.Matti Lieske