■ Vom Nachttisch geräumt: Narziß
Hervé Guibert ist jener Autor, der in seinem Buch „Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat“, seine Aidserkrankung schilderte. Guibert (1955 bis 1991) schrieb Romane, Essays, Filmkritiken, und er fotografierte. Meist schwarzweiß. Da sieht man gleich, daß es um Kunst geht. Noch orientiert an den großen Dokumentaristen die Aufnahmen seiner Großtanten Suzanne und Louise aus den Jahren 1979 und 1980. Dann schauerliche Inszenierungen mit Wachsfiguren, daneben Freunde, Freundinnen, nackt und angezogen, mit erigiertem Glied oder schüchternem Lächeln und immer wieder er selbst und die weißen Räume, in denen er lebte. Er ist fasziniert von der Idee, daß er ein Autor ist, jemand, der Gedanken in Worte faßt. Er blickt sich an und scheint danach zu suchen, ob man ihm ansieht, was für ein kluger Mensch er ist, ob man merkt, daß er Künstler, tragischer Künstler ist. Der Band, der die kultivierte Langeweile der Selbstverliebten abstrahlt, gewinnt, wenn man sich diesem einlullenden Gift entzieht und ihn gegen den Strich liest, ihn mehr von der komischen Seite nimmt. Jedes Foto verbreitet den Eindruck pubertärer Weltflucht, die narzißtische Begeisterung übers eigene schreckliche Schicksal, jene melancholische Lethargie, die einen Teil der Jugend gerade in ihrer vitalsten Periode tagelang nichts tun läßt. Guibert fängt diese Atmosphäre ein und scheint ganz sie zu propagieren. Aber was für ein Fleiß war nötig für all diese Fotos, für seine Bücher und Stücke? Hier singt einer das Lied des bitteren Farniente trauriger noch als alle anderen, aber er tut es mit großem Orchester, mit Schweiß auf der edlen Stirn und in immer neuen Positionen. Ein Stachanow- Arbeiter im Dienste der Propaganda der vita passiva.
Hervé Guibert: „Photographien“. Schirmer/Mosel, 123 Schwarzweiß-Fotos, gebunden, 78 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen