■ Vom Nachttisch geräumt: Pathetiker
Wolfgang Hilbig ist Pathetiker. Keiner der großen Stoffe, sondern einer der tiefen Bedeutungen. Als es noch die DDR gab, da wirkten seine Beschreibungen von saufenden Männern, von Pennern und Ausgestoßenen des realexistierenden Sozialismus wie Parodien auf die von oben verordnete heile neue Welt. An die Stelle der alleinseligmachenden Lehre trat bei Hilbig die alles benebelnde Wirkung des Alkohols. Wie jene die Wirklichkeit vergoldete, so umhüllte dieser sie mit dem milden Schleier der Vergebung. Zugleich aber machte Hilbig sichtbar, was die Ideale des sozialistischen Realismus verbargen. Wolfgang Hilbig ist ein Meister des Genrebildes. Drei Männer um einen Kneipentisch, die immer schwereren Zungen, bei immer flüssiger werdendem Geist – das macht ihm auf deutsch keiner nach. Aber dann kommt sein Ehrgeiz oder der seiner Lektoren, und Hilbig produziert Abstürze ins Gutgemeinte. Peinlich seine Schlüsse. Eine kleine 1989 entstandene Skizze schildert die Veränderungen in der „Schillerstraße“. Keine Milieustudie. Es geht nicht um Mietpreise und Sozialgefüge der Bewohner. Es geht um Erinnerungen, Kastanienbäume und Nebel, um Licht und Luft. Der Verzicht auf soziale Realität war für einen im sozialistischen Realismus aufgewachsenen Autor eine Errungenschaft. Eine Geschichte, in der das Gesellschaftliche keine Rolle spielte, war schon darum fast ein Manifest. Aber dem in den Westen umgezogenen Hilbig war das nicht genug. Er setzte ans Ende seines Textes eine dicke, fett im Öl der Bedeutung schwimmende Pointe: „Die weißen Nebel entstanden nie wieder in der Schillerstraße; sie, die im Verein mit den Kastanien das Geheimnis des Lebens zu verbergen schienen, hatten, als jene entfernt wurden, den Tod aufgedeckt.“
Wolfgang Hilbig: „Die Arbeit an den Öfen. Erzählungen“. Friedenauer Presse, Broschur, 101 Seiten, 28 DM.
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