Die Vernichtung schreiben

■ Fragmente des Schriftstellers Oskar Rosenfeld aus dem Getto Lódź

Die Diskussion um „Schindlers Liste“ ist überstanden. Die Schulklassen sind durchgeschleust. Das Feuilleton vergab Lob und Tadel. Erleichterung nach der „Oscar“- Verleihung: das Gute findet noch seinen Lohn. Wie in Hollywood, so auf Erden. Spielberg schien es gelungen, den mit keiner Sinnmelange zu kittenden „zivilisatorischen Bruch“ (Dan Diner), für den der Nationalsozialismus steht, zumindest exemplarisch darstellen zu können. Die umstrittenen Szenen in den Duschanlagen von Auschwitz zerstörten diesen Schein. Sinnlosem Sinn zu geben, ist die Versuchung der Rede über die Shoah.

Die Vernichtung schreiben ist nicht nur Problem der Nachgeborenen und Überlebenden, es war auch das der Opfer. Als Oskar Rosenfeld am 17. Februar 1942 im Getto Litzmannstadt, wie Lódź unter deutscher Besatzung seit 1940 heißt, mit seinen Aufzeichnungen beginnt, macht der Schriftsteller und Journalist die Spracharmut zum Programm. Als Vorbemerkung scheibt er: „Umschreibend sagen: ganz sachlich, kurze Sätze, alles Sentimentale beseitigen, fern von aller Welt sich selbst lesen, ohne Umgebung denken, allein im Raum, nicht für die Menschen bestimmt ... als Erinnerung für spätere Tage ...“. Was er privat beginnt, wird in den letzten der 21 Schulhefte umfassenden Sammlung öffentlich, gerichtet an „Euch in der Ferne“. Die Auslassungszeichen durchziehen seine Versuche, das Getto zu verstehen. Diese Lücken will er später füllen, in einer Kulturgeschichte des Gettos, in Studien über den Hunger, in Erzählungen. Er skizziert das Getto- Leben detailliert: die zynischen Brotzulagen, wenn Deportationen anstehen, die triumphalistischen Auftritte des Judenältesten Mordechai Chaim Rumkowski, die öffentlichen Hinrichtungen, die Kranken, die sich aus Angst vor Deportationen mit den Fingernägeln die Pulsadern aufreißen, die Zustände im Krankenhaus, das Wühlen der Frauen in den Mülleimern nach Kartoffelschalen, die Absurdität einer bürgerlichen Scheinwelt mit Kulturveranstaltungen und Amnestien zu Feiertagen, das Ende der Erotik und der jüdischen Tradition: die „Seelentaubheit“ der Getto-BewohnerInnen.

Getto Litzmannstadt ist der Golem unter den Städten der Welt“, bemüht er die Mythologie. Ein künstliches Gebilde, das zum Leben erwacht, um Unheil zu bringen. Der „Krepierwinkel Europas“ ist begrifflich nicht zu fixieren. „Viele Schrecknisse gerieten in Vergessenheit. Viele Schrecknisse (Schandtaten) hatten keine Zeugen. Viele Schrecknisse waren derart, daß ihre Darstellung keinen Glauben fand. Aber sie sollen in der Erinnerung leben bleiben.“

Als Opfer der einzigartigen Vernichtungsmaschinerie erkennt er, daß die klassischen Leidensinterpretationen jüdischer Theologie und Tradition wie ägyptische Sklaverei, Exil und Tempelzerstörung nicht mehr relevant sind. Die jüdische Identität droht zu zerbrechen. „Die Tragödie ist ungeheuer. Die im Getto fassen sie nicht. Denn sie bringt keine Größe hervor wie im Mittelalter. Es gibt keine Helden dieser Tragödie. Und warum Tragödie? Weil der Schmerz nicht an etwas Menschliches, an ein fremdes Herz schlägt, sondern etwas Unbegreifliches ist, mit dem Kosmos zusammentrifft, eine Naturerscheinung wie die Schöpfung der Welt. Man müßte von Neuem mit der Schöpfung beginnen, mit ,Berajschitt‘ [hebr.: am Anfang]. Am Anfang schuf Gott das Getto ...“. Das neue Gebot heißt Leben. Überleben, um den Erfolg der Vernichtungspläne der Nazis und ihrer Helfer zu verhindern und Zeuge der Sühne zu sein. „... als Entgelt für die ertragenen Leiden ... Das ist der Sinn dieser letzten Epoche“. Der frühere Chefredakteur der zionistischen Wiener Wochenzeitschrift Die Neue Welt hofft auf die Befreiung. Die sowjetische Armee steht schon vor Warschau, als Rosenfeld im August 1944 mit 65.000 anderen nach Auschwitz-Birkenau deportiert und vergast wird. Er ist 60 Jahre alt. Das Getto wird liquidiert. Von mehreren Hunderttausend, die in viereinhalb Jahren ins Getto gepfercht wurden, überlebten 12.000 das Kriegsende. Die vor dem Krieg blühende jüdische Gemeinde in Lódź mit über 230.000 Mitgliedern existierte nicht mehr.

Die Tagebücher, 50 Jahre nach seinem Ende gelesen, befreien nicht aus der Sprachlosigkeit gegenüber der Shoah, auch wenn sie in der Sprache die Realitäten erahnen lassen. „In einer Sprache freilich, die ihr eigenes Scheitern thematisiert, die in ihrer eigenen Zerstörung sich jener Verbindung von Schrecken und Dauern, von Normalität und Monströsität annähert, die das Getto kennzeichnet“ (Hanno Loewy). Die Getto-Aufzeichnungen verhindern die Vereinnahmungsversuche durch politische Sinndeuter und ihre Entsorgung im Kulturbetrieb. Sie rufen zur Erinnerung an die Opfer. Wilfried Köpke

Oskar Rosenfeld: „Wozu noch Welt. Aufzeichnungen aus dem Getto Lódź“. Hrsg. von Hanno Loewy, Verlag Neue Kritik, FfM 1994, 324 Seiten, Abb., 48 DM