Chaos in der St.Jürgen-Kinderklinik

■ Stationsschließung wegen zweifelhafter Statistik / Überbelegung aus Kostenersparnis

„Es herrscht das reinste Chaos auf den Stationen“. Anke Cords ist „entsetzt“ über die Zustände in der Kinderchirurgie der St. Jürgen Klinik. Ihre Tochter ist seit Oktober 1993 nach einem schweren Unfall immer wieder wochenlang in der Klinik. Seit zum 1. Juli eine von drei Stationen in der Kinderchirurgie geschlossen wurde, geht es dort drunter und drüber. „Vor ein paar Tagen lagen in einem Vierbettzimmer acht Kinder und zwei Eltern“, erzählt Anke Cords.

Nach dem neuen Gesundheitsstrukturgesetz müssen Kliniken betriebswirtschaftlich rentabel arbeiten und können nicht mehr auf Subventionen hoffen. Personal ist am teuersten, rund 70 Prozent der Kosten gehen dafür drauf. Um Kosten zu sparen, müssen also weniger Leute beschäftigt werden – und das geht nur, wenn die Bettenzahlen verringert werden. De facto brauchte die St. Jürgen Klinik aber bis vergangenen Sommer alle zur Verfügung stehenden Betten.

Ab Spätsommer 1993 entschied sich die Klinikverwaltung dennoch, von jeweils Freitagabend bis Montagmorgen eine Abteilung der Kinderchirurgie zu schließen. Weniger zu pflegende Kinder, weniger Personal. Die Kinderchirurgie entließ also jeden Freitag auf der Station 6 all die Kinder, die noch irgendwie von den Eltern gepflegt werden konnten. Frischoperierte oder Schwerkranke legte man kurzerhand auf die anderen kinderchirurgische Stationen. Nach dem Motto „Platz ist in der kleinsten Hütte“, wurden die Betten zusammengerückt und die Kinder dazwischengeschoben.

Jedes Wochenende waren so 16 Betten weniger belegt, die in der Statistik aber weiterhin als ständig verfügbar ausgewiesen wurden. Und so stellte man am Ende des Jahres zwangsläufig fest, daß permanent Betten frei waren, die Klinik über zu viele leere Betten verfügte. Die Folge der so „bewiesenen“ Unrentabilität: Die Station wurde geschlossen. Die Klinik verkauft diese Schließung als Erfolg: In den freigewordenen Betten will man nun Eltern von kranken Kindern unterbringen – allerdings weit von den Kindern entfernt.

Dem Schließungsplan half noch ein weiterer Umstand. Seit Januar 1994 muß das Pflegepersonal an allen deutschen Krankenhäusern den Pflegebedarf der PatientInnen auf neuen Vordrucken festhalten. Wie ein Arzt der Klinik der taz gegenüber sagte, wurden „die Bögen schlampig“ geführt. Das Pflegepersonal war von der Krankenhausleitung nicht geschult worden. In anderen Kliniken werden extra Leute damit beauftragt, das Personal zu schulen und die Bedarfsbögen zu kontrollieren. Von den unvollständig ausgefüllten Bögen wurden zudem „nur ungefähr 30 Prozent überhaupt ausgewertet“, wie von der Station zu erfahren war. Mit dem Ergebnis dieses Drittels wurde aber anschließend manifestiert, daß zuviel Personal sich um zu wenig Patienten kümmert.

Personalleiter Premm sieht die „Situation völlig entkrampft“ und wiegelt gegenüber der taz ab: „Es sind durchschnittlich zwei bis drei Kinder in einem Zimmer. Nur acht Betten sind weggefallen“. Die anderen Betten seien auf die verbliebenen Stationen verteilt worden. Wenn es zu eng in der Kinderchirurgie werde, könne man das „interdisziplinär regeln“. Und das heißt: Blinddarm neben Beinbruch, Gehirnerschütterung neben Darmverschluß. Die aufgegebene Station soll in Elternzimmer verwandelt werden. Denn „Eltern wollen garnicht mit ihren Kindern in einem Zimmer sein, nur in der Nähe“, weiß Premm.

Kinderarzt Dr. Bernward Fröhlingsdorf vom Berufsverband der Kinderärzte Deutschlands findet „diese Entwicklung bedenklich“. Er befürchtet, daß die „chirurgische Versorgung der Kinder negativ entwickeln wird“.

Dabei gilt die Kinderklinik des Krankenhauses St. Jürgen-Straße seit den siebziger Jahren in Norddeutschland als vorbildlich. Schwierige Fälle von Aurich über Emden bis Nordenham werden in Bremen behandelt. Vor allem für die chirurgische Behandlung angeborener Fehlbildungen ist die Klinik bekannt.

Fröhlingsdorf fürchtet, daß durch das „Gewusel in den Zimmern und das hoffnungslos überbelastete Personal“ der Ruf der Klinik leidet und wichtige Operationen nicht mehr durchgeführt werden. Oder noch schlimmer, daß entnervte Eltern zu schlechter ausgebildeten ÄrztInnen gehen.

fok