Ein soziales Netz mit Webfehlern

Die soziale Grundsicherung setzt auf eine Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Existenzsicherung – doch das in allen Parteien heißdiskutierte Reformwerk hat viele Haken. Verlieren könnten dabei vor allem die Frauen  ■ Von Anja Wollny

Für das Wahljahr haben sich die Parteien Großes vorgenommen: Von Grün bis Schwarz wird an einer Neuordnung der sozialen Sicherung gebastelt, Sozialversicherungen und Sozialhilfe sollen gründlich reformiert werden. Wer im Laufe des Jahres überhaupt noch versucht hat, etwa die Debatte über die Einführung einer Pflegeversicherung nachzuvollziehen, atmet erleichtert auf: endlich, das Sozialrecht nicht länger ein Labyrinth, mehr Transparenz, weniger Bürokratie. Die BürgerInnen sollen ihrem Sozialstaat nicht länger ausgeliefert sein, sondern – ausgestattet mit einem Rechtsanspruch – eine materielle Existenzsicherung einfordern dürfen.

Der Grundgedanke der Reform: In Zeiten anhaltend hoher Erwerbslosigkeit kann soziale Sicherung nicht länger direkt von Erwerbsarbeit abhängen. Die Gemeinden sind durch die Finanzierung der Sozialhilfe, die ursprünglich für vorübergehende Notsituationen konzipiert war und inzwischen vielfach die Einkommenssicherung von Erwerbslosen übernehmen muß, hoffnungslos überfordert. Sie soll deshalb durch einen neuen Transfer ersetzt werden, der nicht den Charakter von Armenfürsorge trägt, sondern mit einem Rechtsanspruch verknüpft ist und vom Bund getragen wird.

Ökonomen favorisieren eine Reform des Sicherungssystems vor allem aus einem Grund: Sie versprechen sich von einem integrierten Steuer-Transfer-Konzept, wie es beispielsweise die FDP in die politische Debatte eingebracht hat, hohe Effizienz und Zielgenauigkeit auf der Einnahmen- wie Ausgabenseite. Wer Einkommen erzielt, soll Steuern zahlen; wer auf kein eigenes oder nur ein geringes Einkommen zurückgreifen kann, erhält zukünftig nur noch von einer Stelle Geld: dem Finanzamt. Das ermöglicht dem Staat vor allem eine erhebliche Reduzierung des Verwaltungsaufwandes.

Die Diskussion, die bereits in den achtziger Jahren in der alten Bundesrepublik geführt wurde, aber bei weitem nicht die heutige Brisanz erreichte, wird nun zusätzlich von der Aussicht beflügelt: daß sich mittels einer Reform ein zweiter Arbeitsmarkt etablieren ließe, auf dem die Löhne niedrig und Arbeitszeit sowie -volumen flexibel wären und der so für die von den Unternehmern zwecks Standortverbesserung hartnäckig eingeforderten niedrigen Lohnkosten sorgen könnte. Die Liberalen haben durch die von ihnen vorgeschlagene Höhe für ein sogenanntes „Bürgergeld“ demonstriert, warum das auch funktionieren könnte. Sie wollen die Sozialhilfe durch ein Grundeinkommen in Höhe von 550 Mark monatlich (ohne Mietzuschüsse) ersetzen. Mit einem solch niedrigen Einkommen wäre ein Arbeitsanreiz gesetzt, zumal – und das ist eine vielgepriesene Neuerung gegenüber der Sozialhilfe – das zusätzliche Einkommen nicht länger voll verrechnet würde, sondern ein Gutteil jeder verdienten Mark auf das eigene Konto ginge. Hier und dort ein kleines Zubrot durch Erwerbsarbeit – die Sache würde sich so also lohnen.

Wollen Liberale und Konservative aber tatsächlich, wie ständig beteuert wird, durch das neue Anrechnungssystem vor allem die Integration von Langzeiterwerbslosen auf dem Arbeitsmarkt befördern, dann fragt sich allerdings, warum sie dazu gleich den Sozialstaat aus den Angeln heben müssen. Das Arbeitsförderungsgesetz gestattet es schon lange, bei Erwerbslosen nur die Hälfte zusätzlichen Einkommens zu besteuern. Ein einfaches Gesetz würde ausreichen, dies auch SozialhilfebezieherInnen zu ermöglichen. Das Problem dabei: Würde der Zuverdienst nicht mehr voll angerechnet, dürften es nicht wenige BezieherInnen von Sozialhilfe durch den Zusatzjob tatsächlich auf ein höheres Einkommen bringen als mit einer Vollzeitbeschäftigung in einer der unteren Lohngruppen. Und das gerade soll aber verhindert werden. Um Arbeitsanreize zu setzen und das gesetzlich verankerte sogenannte „Lohnabstandsgebot“ zu erfüllen, welches allzeit für eine gebührende Lücke zwischen Erwerbslohn und staatlicher Leistung sorgt, muß also das Sicherungsniveau gesenkt werden. Das Institut der deutschen Wirtschaft sieht die Sache so: „Um als Anreiz zu dienen und die Staatsfinanzen nicht über Gebühr zu belasten, müßte das Bürgergeld möglichst tief angesetzt werden – eventuell sogar niedriger als die derzeitige Sozialhilfe.“

Die Vorstellung, eine Mindestsicherung könnte zu einer Angebotsverknappung bei schlechtbezahlten und gesundheitsschädigenden Arbeiten führen, wie in der Diskussion gelegentlich zu hören, ist vor dem skizzierten Hintergrund naiv. Die Höhe des garantierten Einkommens sorgt geradezu für den Zwang, einen Zusatzerwerb aufzunehmen, und stärkt nicht etwa die Verhandlungsmacht der ArbeitnehmerInnen. Derartige Vorstellung ignorieren überdies, daß auch BürgerInnen ohne deutschen Paß ihre Arbeitskraft anbieten. Doch sie werden wohl kaum in den Genuß des „Bürgergeldes“ kommen und müssen auch weiterhin schlechtbezahlte Jobs annehmen.

Etwas ganz anderes als eine weitere Reduzierung staatlicher Versorgungsleistungen haben Bündnis 90/Die Grünen, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sowie der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) mit ihren Konzepten zu einem Mindesteinkommen im Sinn. Ihnen geht es vielmehr darum, das Niveau anzuheben, Versorgungslücken zu schließen und die Versicherungsleistungen dort, wo keine Beiträge durch Erwerbsarbeit geleistet werden können, durch eine Steuerfinanzierung zu ersetzen. Und: Die Vorschläge beinhalten eine altbekannte Forderung, nämlich die Anerkennung von Erziehungs- und Pflegearbeit. So setzt beispielsweise das DPWV-Konzept für den Erhalt der Grundsicherung zwar prinzipiell die Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt voraus, nimmt davon aber all diejenigen aus, „die eine gesellschaftlich anerkannte Tätigkeit außerhalb des Arbeitsmarktes ausüben; als solche gelten insbesondere familiäre Erziehungs- und Pflegetätigkeiten“. Allerdings, und das ist der Haken, bleibt die gegenseitige Unterhaltspflicht zwischen EhegattInnen bestehen.

Das bedeutet im Klartext: Die Ehefrau, die zugunsten der Familie auf eine Erwerbstätigkeit verzichtet, erhält keinen eigenen Anspruch. Eine der Grundfesten des alten Sicherungssystems, die Abhängigkeit der Frauen vom ehelichen Unterhalt, wird in keinem der vorgelegten Konzepte angetastet. Das hat einen guten Grund, denn sonst würde das gesamte Reformwerk sofort zum Einsturz gebracht. Ein Blick auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes genügt: 1990 bezogen fast 41 Prozent der (west-)deutschen Frauen im erwerbsfähigen Alter ihren Unterhalt überwiegend von Familienangehörigen. Ließe sich also aus Familienarbeit und nicht nur aus Erwerbslosigkeit ein Anspruch auf eigenes Einkommen ableiten, die Republik wäre sofort pleite.

Was also nützt den Frauen eine Grundsicherung, wenn die meisten keine kriegen? Sie sind schon allein aufgrund ihrer durchschnittlich niedrigeren Einkommen von einer Reform des Sicherungssystems mehr betroffen als Männer. Staatliche Leistungen übernehmen darüber hinaus für Frauen mit Kind(ern) nicht nur eine Ersatzfunktion während einer Phase der Erwerbslosigkeit, sondern werden zu der einzigen Einkommensquelle, falls die Sicherung über ehelichen Unterhalt versagt oder mangels Ehe gar nicht möglich oder erwünscht ist. So sind alleinerziehende Frauen häufig auf Sozialhilfe angewiesen, weil dies in der Tat die einzige Geldquelle ist, zu der sie Zugang bekommen können. Der philosophisch angehauchten Debatte über die „Entkoppelung von Arbeit und Einkommen“ können sie sicherlich nicht viel abgewinnen. Für Alleinerziehende ist die Entkoppelung, ganz unphilosophisch und leider eben umgekehrt, längst verwirklicht: Sie verrichten Arbeit, ohne ein Einkommen zu erzielen.

Eine Reform des Sicherungssystems, wie sie derzeit in Angriff genommen wird, müßte aus der Perspektive von Frauen also wesentlich mehr erfüllen als nur eine Erhöhung des Sicherungsniveaus. Sie müßte auch beantworten, wie die frauentypischen Erwerbs- und Lebensverläufe zukünftig abgesichert werden sollen. Solche Überlegungen schließen die Frage nach den Chancen auf dem Arbeitsmarkt und nach der Umverteilung von Familienarbeit ein. Familienarbeit kann schließlich nur umverteilt werden, wenn dies gleichzeitig mit der Erwerbsarbeit geschieht. Eine wichtige Frage lautet also: Sorgt die Grundsicherung für eine Verbesserung der arbeitsmarktinternen Chancen von Frauen?

Nun hätte ein höheres Leistungsniveau natürlich auch für Frauen positive Wirkungen, da es vor allem sie sind, die von einer Anhebung der Sozialhilfe, der niedrigen Renten und der niedrigen Bezüge aus der Arbeitslosenversicherung profitieren. Das ändert aber nichts an der prinzipiellen Misere, daß sie vor allem aufgrund ihrer unterbrochenen Erwerbsbiographien benachteiligt sind. Hier treffen sich die zahlreichen Reformkonzepte, so unterschiedlich die Ansätze und politischen Intentionen auch sind und so wenig sie im Kern gemeinsam haben: die strukturellen Probleme aus der Perspektive von Frauen bleiben unangetastet. Der arbeitsmarktentlastende Effekt des Erziehungsgeldes spricht Bände. Rund 300.000 Frauen gehen jedes Jahr in Erziehungs-„Urlaub“, lediglich die Hälfte kehrt danach zurück. Diese Entwicklung würde sich voraussichtlich durch eine Grundsicherung noch erheblich verschärfen, denn die Inanspruchnahme ist ja gerade nicht mit einer Arbeitsplatzgarantie verknüpft. Die Erfahrungen zeigen auch, daß Frauen nach einer Erziehungsphase häufig Karriereeinbrüche hinnehmen müssen. Und sie sind es, die sich in der Grauzone zwischen Erwerbslosigkeit und Arbeitsmarkt bewegen. Ein zweiter Arbeitsmarkt ist so neu nicht, wie in letzter Zeit getan wird. Etwa 4,4 Millionen Frauen, so schätzt der DGB, sind allein in den alten Bundesländern sozialversicherungsfrei beschäftigt.

Einen Teil ihrer Faszination bezieht die Debatte über eine Umgestaltung des Sozialstaates aus der Vorstellung, den aussichtslos scheinenden Kampf um neue Arbeitsplätze damit gleich mit zu erledigen. Haben wir erst einmal die Grundsicherung, brauchen wir die Arbeitsplätze gar nicht mehr. Hier liegt der Irrtum, der vor allem für Frauen gefährlich werden könnte. Sie haben nicht jahrzehntelang um mehr Erwerbsbeteiligung gekämpft, um immer weiter die billigen Plätze zu erhalten.

Eine Grundsicherung macht also nur in Kombination mit Garantien Sinn, die die Bindung an die Erwerbsarbeit verstärken und die Belastung in den Familien mindern. Bündnis 90/Die Grünen haben mit dem von ihnen vorgelegten Konzept diese Richtung eingeschlagen. Sie fordern zusätzlich zur Grundsicherung die Etablierung eines Betreuungsgeldes, das sich aus dem zuletzt erhaltenen Lohn errechnet und mit einer Arbeitsplatzgarantie verknüpft ist. Doch auch dieses Konzept kann die Marginalisierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt nur verhindern, wenn zuvor andere, nämlich die alten Forderungen erfüllt werden: 1. Kindergartenplätze, 2. Kindergartenplätze, 3. Kindergartenplätze, 4. Anrechnung von Erziehungs- und Pflegearbeit in der Arbeitslosenversicherung, verbunden mit einem Anspruch auf ein steuerfinanziertes Arbeitslosengeld, sobald die Frauen wieder eine Erwerbsarbeit suchen, 5. Anbindung an den alten Betrieb während einer Familienphase sowie Anspruch auf Fort- und Weiterbildung, 6. Einbezug der ungeschützten Jobs in die Sozialversicherung. Sollte der Gesellschaft tatsächlich irgendwann die Erwerbsarbeit ausgehen, wie weithin gemunkelt wird, dann wollen Frauen bei diesem großen Ereignis schließlich auch dabeisein – und zwar in der allerersten Reihe, denn von dort hat frau ja bekanntlich die beste Aussicht.