Landesverrat mit dem Taschentuch

■ Sechs Abgeordneten der Partei der Demokratie droht in Ankara die Todesstrafe

Ankara (taz) – Vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara beginnt heute der vielleicht folgenschwerste politische Prozeß in der modernen Geschichte der Türkei. Sechs kurdische Abgeordnete des türkischen Parlaments werden des „Landesverrats“ bezichtigt. Die Staatsanwaltschaft fordert die Todesstrafe. Alle sechs Abgeordneten, Leyla Zana, Hatip Dicle, Ahmet Turk, Orhan Dogan, Sirri Sakik und Mahmut Alinak, waren Mitglieder der Partei der Demokratie (DEP), die Mitte Juni vom türkischen Verfassungsgericht verboten worden ist. Zahlreiche europäische Delegationen – unter ihnen Europaabgeordnete und Parlamentarier aus EU-Staaten – sind nach Ankara gereist, um den Prozeß gegen die seit Anfang März inhaftierten ParlamentarierInnen zu beobachten. Auch die kurdische Opposition hat zur massenhaften Teilnahme am Prozeß aufgerufen. Bereits vor dem Prozeß glich das Staatssicherheitsgericht einer polizeilichen Festung. Seit dem Militärputsch 1980 werden erstmalig vom Volk gewählte Parlamentarier wegen Landesverrats vor ein Gericht gestellt. Verschiedene Reden der Abgeordneten und ihre parlamentarische Tätigkeit werden in der Anklageschrift als „Landesverrat“ eingestuft. Das Tragen eines Taschentuches in den Farben Gelb, Rot, Grün – sie symbolisieren die kurdische Flagge – wird in der Anklageschrift als „Aktion gegen die unteilbare Einheit von Staat und Nation“ gewertet. Eine Petition der Abgeordneten an die Vereinten Nationen ist in den Augen der Staatsanwaltschaft „Separatismus“. In kurdischer Sprache gehaltene Wahlkampfreden gelten als verbrecherisch. In weiten Teilen wirkt die Anklageschrift wie ein Sammelsurium von Absurditäten. So liest man: „Die Abgeordneten fürchteten, daß die PKK von den Sicherheitskräften zermalmt wird, und haben, weil dem so ist, die Türkei beschuldigt.“ Die Abgeordneten hatten in ihren Erklärungen immer wieder die Menschenrechtsverletzungen der türkischen Armee in den kurdischen Regionen angeprangert. Die Anklageschrift stützt sich in weiten Teilen auf dubiose Telefonmitschnitte des türkischen Geheimdienstes, nach denen die Abgeordneten heimlich Befehle des PKK-Chefs Abdullah Öcalan, der vom Libanon aus die Guerilleros anführt, entgegengenommen haben sollen. Die Angeklagten werden von 400 Rechtsanwälten verteidigt. Diese wollen sich vor allem auf das Recht auf freie Meinungsäußerung berufen und erklären, ihre Mandanten hätten keine kriminelle Tat begangen. Staatssicherheitsgerichte sind Sondergerichte, die zuständig für „Verbrechen gegen den Staat“ sind. Die polizeilichen Festnahmen und der Prozeß gegen die Abgeordneten sind Teil der rigiden Strategie, mit der die türkische Regierung und die Militärs seit dem Tode des Ministerpräsidenten Turgut Özal 1993 die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen bekämpfen. Sie lehnen jeglichen politischen Kompromiß mit der kurdischen Minderheit ab. Während der türkische Generalstab von dem „totalen Vernichtungsfeldzug“ gegen die kurdische Guerillaorganisation PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) spricht, werden vor dem Staatssicherheitsgericht die politischen Vertreter der Kurden angeklagt. Ömer Erzeren

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