Kleinbauern schöpfen Hoffnung

Fundamentalisten bringen Bangladesch in die Schlagzeilen. Die Probleme des fruchtbaren Landes liegen tiefer: Noch wächst die Bevölkerung schneller als die landwirtschaftliche Produktion  ■ Von Bernard Imhasly

1. Mai 1991: Ein schwerer Wirbelsturm fegt über die Küste von Bangladesch und die vorgelagerten Inseln. Die Sogkraft der kreisenden Winde zieht eine sechs Meter hohe Wasserwand mit sich – höher als die meisten Behausungen. Obwohl seit Tagen über Radio und lokale Informanten Sturmwarnung durchgegeben wurde, vermögen sich viele Menschen nicht mehr rechtzeitig zu retten – 138.000 Personen sterben, nicht eingerechnet die Menschen, die von Epidemien und Hunger dahingerafft werden.

Der offizielle Bericht kommt zum Schluß, daß es, wenn überhaupt, „nur wenige Opfer gegeben hätte, wäre die Bevölkerung im Katastrophengebiet nicht so rasch gewachsen“. Die Warnsysteme funktionierten, die meisten Schutzanlagen standen bereit, aber „die extreme Bevölkerungsmassierung in der Küstenregion brachte die Umsiedlungsanstrengungen zum Erliegen“.

Es war einer jener Augenblicke, in dem wohl Millionen von Menschen überall auf der Welt nach einem Moment der Trauer zur Tagesordnung übergingen. Angesichts der schieren Unfaßbarkeit der Tragödie war die passende Erklärung rasch zur Hand: das Land ist ein permanentes Desaster; ein Wirbelsturm, eine Hungersnot, eine Epidemie sind, wie eine Zeitung vermerkte, „lediglich die Bestätigung dafür, daß die Natur die Bevölkerungsexplosion in die Hand nimmt, wenn die Menschen ihrer nicht Meister werden“. Aber selbst die Natur vermochte das Gleichgewicht zwischen Lebensraum und Bevölkerung nicht wiederherzustellen: Vierzehn Tage nach der Katastrophe hatten 150.000 neugeborene Bangalen die Lücke bereits wieder gefüllt.

Ein Paradiesgarten mit ausgemergelten Menschen

Bangladesch scheint ein krasses Beispiel dafür zu sein, daß sich gerade in Katastrophenzeiten die menschliche Fruchtbarkeit besonders üppig entfaltet. Auf einem Gebiet, dessen Nutzfläche kaum größer ist als die Schweiz, wohnen 115 Millionen Menschen. In dreißig Jahren werden es 230 Millionen sein – die Hälfte Europas, vorausgesetzt, die globalen Klimaveränderungen werden nicht weite Teile des Landes unter Wasser setzen: die Stadt Rajshahi, dreihundert Kilometer vom Meer entfernt, liegt weniger als zehn Meter darüber. Muß da nicht die Glorifizierung von „Sonar Bangla“ – dem „Goldenen Bangladesch“ – in der Nationalhymne wie blanker Hohn wirken? Das Irritierende an Bangladesch ist, daß die Bezeichnung tatsächlich zutrifft: Bangladesch ist kein afrikanisches Hungerland mit steinigen Böden, trockenen Flußbetten und toten Ziehbrunnen, vielmer ein Paradies von grünen Feldern mit Reis, Weizen, Zuckerrohr, punktiert von Bambushainen und Mangobäumen, die sich wie grüne Wattebäusche über die Landschaft verteilen. Die Felder sind durchwirkt von einem Kanal- und Flußnetz, in dem es von Fischen wimmelt, und die fröhlich kreischenden Kinder, die sich im Wasser tummeln, können die Illusion eines Gartens hervorzaubern.

Doch es sind die Schatten ausgemergelter Körper, die diese Überfülle ernten, hier ein Netz aus dem Wasser ziehen, dort ein Ochsenpaar durch die Furchen lenken oder aus dem Dorfteich Wasser schöpfen. In den 65.000 Dörfern, die in diesem Schwemmgebiet der großen Himalajaströme Ganges und Brahmaputra jeden Quadratzentimeter Landes bewirtschaften, leben achtzig Millionen Menschen, und die meisten von ihnen können ihren bescheidenen Kalorienbedarf heute nicht mehr decken. Eine repräsentative Umfrage hat 1992 folgendes Bild ergeben: Innerhalb eines Jahres müssen sich 66 Prozent aller Haushalte mit mindestens einer Naturkatastrophe auseinandersetzen; 46 Prozent kämpfen mit einer Gesundheitskrise, und 35 Prozent sind in rechtliche Auseinandersetzungen verwickelt, in denen es meist um das immer knappere Land geht. Immer mehr Menschen müssen das bißchen Land veräußern, das ihnen noch gehört, meist, um Nahrung oder Medikamente zu kaufen, die den Bauern oder seine zahlreiche Familie – mit durchschnittlich fünf Kindern – für die nächsten Wochen buchstäblich über Wasser halten.

Die gleiche Studie, vom Forschungsinstitut für Entwicklungsfragen in der Hauptstadt Dhaka durchgeführt, zeichnet aber auch ein anderes Bild. Sie weist einmal darauf hin, daß in den dreißig Jahren, in denen sich die Landlosigkeit so stark vermehrt und die Bevölkerung verdoppelt hat, das Land die Selbstversorgung in seiner Nahrungsmittelproduktion erreicht hat. Das ist zwar lediglich eine statistische Größe und hilft dem arbeits- und landlosen Bauern nicht, der vor den vollen Regalen des Dorfladens steht und – hungert, weil er sich die Nahrungsmittel nicht leisten kann. Dennoch kommt die Studie zum erstaunlichen Schluß, daß sich die Lage gebessert hat: Trotz der doppelten Zahl von Menschen geht es ihnen heute im Durchschnitt besser als vor dreißig Jahren.

Der Grund für diese optimistischen Aussagen liegt zum Teil darin, daß die Statistiken, die während Jahrzehnten Hiobsbotschaften in die Welt gesandt hatten, oft falsch waren, weil sie den informellen Sektor praktisch nicht berücksichtigt hatten. Denn eine Familie, für die das Überleben das wichtigste Thema jedes einzelnen Tages ist, hat gar keine Zeit, dabei zu resignieren. Während der Mann nicht einfach ein Bauer ist, sondern in der Regel einer Reihe weiterer Beschäftigungen nachgeht – von Transporten auf seinem Handkarren bis zu Gelegenheitsarbeiten als Handlanger –, produziert seine Frau im Küchengarten Gemüse, das sie oder eines der Kinder verkauft, oder sie hält sich ein paar Hühner und verkauft die Eier.

Die Erfassung dieser Tätigkeiten geht einher mit einer neuen Bewertung der Armen: Die „Hilfeempfänger“ werden „Wirtschaftssubjekte“, die in gewisser Weise die wichtigsten Bedingungen eines Unternehmers erfüllen: im schärfsten wirtschaftlichen Wettbewerb nehmen sie oft große Risiken auf sich und sind mit ihren lächerlich geringen Hilfsmitteln – oft ist es nur ihre eigene Körperenergie – extrem produktiv. Planungsminister Khan glaubt sogar, die bangladeschischen Kleinbauern seien die effizientesten Produzenten des Landes überhaupt.

Die Einsicht hat auch zu einer neuen Bewertung der Landlosigkeit geführt: Zunehmender Landverlust wegen wirtschaftlicher Not ist nicht immer gleichbedeutend mit einer weiteren Verarmung. Das zeigt sich etwa darin, daß die ärmsten vierzig Prozent der Haushalte zwar nur drei Prozent des Landes besitzen, aber immerhin fünfzehn Prozent des Volkseinkommens erwirtschaften. Ist es nicht typisch für jede modernisierende Volkswirtschaft, daß der Übergang von der Landwirtschaft zu Industrieproduktion und Dienstleistungen durch eine Abnahme des Landanteils der Bevölkerung gekennzeichnet ist? Urs Heierli, während drei Jahren Leiter des schweizerischen Entwicklungsprogramms in Bangladesch, meint provokant: „Die Schweiz hat mehr Landlose als Bangladesch!“ Vom Selbstversorger wird der Bauer zum Wanderarbeiter, Tagelöhner, und oft zum Industriearbeiter. Diese Tendenz vermindert den Druck auf die knappste Ressource, landwirtschaftliches Land, und erlaubt es den verbleibenden Bauern, effizienter zu produzieren. „Wie kommt es sonst“, fragt Heierli, „daß die bangladeschische Landwirtschaft heute nur noch 60 Prozent der Menschen beschäftigt, aber die doppelte Zahl von Menschen ernährt?“

Große Kinderzahl: eine rationale Entscheidung?

Für die Menschen aber, die dieser Transformationsprozeß aus allen ihren traditionellen Sicherungen herausschleudert, gibt es keinen Fallschirm. Der Staat ist keine Sozialversicherung, und auch als Entwicklungsagent und Verteiler meist ausländischer Entwicklungsgelder hat er in vielen Fällen versagt: „Jeder Subdistrikt hat heute ein Spital“, sagt der Experte Zillur Rahman, „aber nur fünfzehn Prozent der Bevölkerung kommen in den Genuß der staatlichen Gesundheitsversorgung.“

Erst als Bangladesch Mitte der achtziger Jahre begann, sich unter dem Druck der Geberländer vermehrt auf marktwirtschaftliche Instrumente zu stützen, zeigten sich Fortschritte. Das überraschendste Resultat der Studie von 1992 war, daß der freie Markt die Armen begünstigt, weil er die Privilegien der Großen bricht. Die Subventionen für Düngemittel wurden abgeschafft; zwar stiegen prompt die Preise an – aber die gleichzeitige Privatisierung des Vermarktungssystems stellte eine verbesserte Versorgung sicher, und der Wettbewerb beseitigte weitgehend den Preisvorteil der Großbauern.

Dem Überlebensdruck, der in dieser Gesellschaft herrscht, könnte das freie Spiel der Marktkräfte allein allerdings nicht standhalten. An der Stelle des Staates hat sich ein Netz Tausender privater Organisationen gebildet, die heute drei Millionen Haushalte erfassen und in vielerlei Hinsicht Funktionen einnehmen, die sonst staalichen Einrichtungen zufielen. Die „Grameen Bank“ ist nur ein Beispiel für die Fähigkeit der Ärmsten und der Frauen, unternehmerische Chancen – und sei es die Anschaffung eines Huhns – wahrzunehmen, sobald die Ressource Kapital in Form eines Kleinkredits verfügbar ist.

Allerdings genügt auch ein dichtes Netz von privaten Hilfsorganisationen nicht, die Zukunft zu sichern, wenn jederzeit eine Naturkatastrophe über eine Familie hereinbrechen kann und wenn allein die Gesundheitskosten zwei Drittel des Einkommens auffressen. Psychologisch scheint immer noch die Großfamilie die beste Alterssicherung zu bieten. Dies erklärt das Paradox, daß der bangladeschische Kleinbauer auf der einen Seite ein effizienter Unternehmer ist, auf der anderen Seite aber so viele Kinder in die Welt setzt, daß deren Lebensbedürfnisse all seine Anstrengungen wieder zunichte machen.

Doch auch die hohe Kinderzahl ist eine rationale Entscheidung, meint Urs Heierli: „Bei der hohen Kindersterblichkeit muß ein Bauer fünf Kinder auf die Welt stellen, um einigermaßen sicher zu sein, daß ihm mindestens ein Sohn im Alter beistehen kann.“ Ohne staatliches Sozialnetz kann ein Bauer nur mit einem halben Dutzend Kinder diese Sorge einigermaßen besänftigen. Im Konflikt zwischen Familiensolidarität und Kapitalakkumulation siegt daher oft die Angst gegen die Hoffnung.

Auch Trinkwasser hilft gegen Übervölkerung

Die beste Bevölkerungspolitik, meint Zillur Rahman, ist daher nicht in erster Linie die medizinische der Familienplanung: „Es bedarf einer Entwicklungspolitik, die statt nur auf Armutsbekämpfung wieder stärker auf Wachstum setzt“ und vermehrt Marktanreize schafft für eine Armee von armen Kleinbauern, denen das Wasser so sehr bis zum Halse steht, daß sie einfach gezwungen sind, solche Angebote anzunehmen.

Auch Urs Heierli sieht die Aufgabe des Staates vermehrt in der Bereitstellung von Sozialdiensten wie Gesundheit und Erziehung: „Das Wasserversorgungs- und Latrinenprojekt von Regierung und Entwicklungsorganisationen stellt heute das beste Programm zur Bevölkerungsstabilisierung dar.“ Es stellt den Menschen, die bislang den Dorfteich zugleich als Bedürfnisanstalt und Trinkwasserreservoir nutzen mußten, Ziehbrunnen und Latrinen zur Verfügung.

Geben solche Programme aber nicht dem Bevölkerungswachstum neue Schubkraft, weil sie die Kindersterblichkeit verringern? Die Entwicklungsexperten sind sich heute einig, daß dieser Effekt kurzfristig in Kauf genommen werden muß: Nur die Gewißheit des Überlebens des eigenen Nachwuchses wird die Eltern dazu bringen, weniger Kinder auf die Welt zu setzen.