Nach dem Zerfall

■ Am Sonntag beginnen mit Rekordteilnehmerzahl die 16. Europameisterschaften der Leichtathletik in Helsinki

Hamburg (dpa) – Zum vierten Mal nach den Olympischen Spielen 1952, der Europameisterschaft 1971 und der ersten Weltmeisterschaft 1983 steht Helsinki im Blickpunkt der Leichtathletik. Von Sonntag bis zum 14. August ermittelt Europas Leichtathletik im Olympiastadion der finnischen Hauptstadt zum 16. Male seit 1934 ihre Besten. Schon vor dem ersten Startschuß stand der erste Rekord fest: 1.311 Athleten aus 44 Ländern sind für die Entscheidungen in 44 Disziplin und zwei Mannschaftswertungen im Marathon- Europacup gemeldet.

Die Vielzahl der teilnehmenden Länder dokumentiert die Veränderung, die Europa seit den Titelkämpfen 1990 in Split erfahren hat: Die einstige Sowjetunion und Jugoslawien sind zerfallen, die DDR existiert nicht mehr. Nach der territorialen Neugestaltung im Osten wird nun die Leichtathletik des alten Kontinents neu geordnet. Legt man die aktuelle Europa-Bestenliste zugrunde, können sich 17 Länder (Split: 10) Hoffnungen auf mindestens einen Titel machen. Allen voran Rußland (8) und Großbritannien (7), gefolgt von Frankreich und Deutschland (je 4), den ehemaligen UdSSR-Staaten Ukraine und Weißrußland sowie Irland (je 3).

Doch die Leistungsschau Europas ist längst nicht mehr die der Leichtathletik-Welt. In den 24 Männer-Disziplinen führen (Stand 1. August) nur acht Mal Europäer die Weltbestenliste des Jahres an. Allerdings halten die Frauen, bei denen erstmals der Dreisprung auf dem Programm steht, mit 12:8 gegen den Rest der Welt Europas Fahne noch hoch. Insbesondere die Irin Sonia O'Sullivan, die über die Mittelstrecken ebenso eine Bank ist wie Irina Priwalowa, die im Sprint die Nachfolge der gesperrten, dreimaligen Split-Siegerin Katrin Krabbe antreten kann. Die Britin Sally Gunnell über 400m-Hürden ist neben Olympiasiegerin Heike Drechsler eine der wenigen weiteren kaum zu schlagenden Favoritinnen.

Nachdem Stabhochspringer Sergej Bubka bereits vor seinem 35. Weltrekord am Sonntag in Sestrière seinen Verzicht erklärt hatte, sind die Rollen der männlichen Stars schnell verteilt. Olympiasieger Linford Christie über 100m und seinem britischen Landsmann und Weltrekordler Colin Jackson über 110m-Hürden ist am ehesten zuzutrauen, den Titelkämpfen weltweiten Glanz zu verleihen.

DDR (12 Gold/12 Silber/10 Bronze), Großbritannien (9/5/4), UdSSR (6/9/6) – so hieß die Reihenfolge nach den Tagen an der jugoslawischen Adria. Nun bestimmt realistische Bescheidenheit das Kalkül beim vereinten Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV). Leistungssportdirektor Frank Hensel hat ausgerechnet: „Wir haben die Chance auf zehn bis 15 Medaillen.“ 41 Medaillen hatten die doppelten Deutschen bei ihrem letzten getrennten Auftritt auf der europäischen Bühne gesammelt.

„Mit Rußland und Großbritannien unter die ersten Drei kommen“, hat Hensel das Ziel für seine inzwischen auf 106 Mitglieder geschrumpfte Mannschaft (62 Männer/ 44 Frauen) in Helsinki abgesteckt. Aber dann müssen schon fast alle Trümpfe mit Olympiasieger Dieter Baumann und Doppel- Weltmeister Lars Riedel an der Spitze stechen. Mit Sabine Braun, Heike Drechsler, Dietmar Haaf, Heike Henkel, Jens-Peter Herold, Astrid Kumbernuss, Jürgen Schult und Ilke Wyludda hat der DLV noch acht Titelverteidiger nominiert.

Gespannt ist man im DLV, ob sich Athleten wie Marc Blume, Nico Motchebon, Raymond Hecht oder Melanie Paschke auch international durchsetzen können. Mancher von ihnen wird angesichts muskelbepackter Konkurrenten neben sich resignierend erkennen müssen, daß auch im Zeitalter konsequenterer Doping- Kontrollen Trainingsfleiß allein keine Meister macht.