Das Ein-Mann-Imperium

Henry, Portrait of a Serious Worker: Die Aktivitäten eines Körpers namens Rollins  ■ Von Thomas Winkler

Der Körper steht wiegend, rechtes Bein vor, linkes weit zurück, auf der Bühne. Leicht federnd und doch komisch verkrampft. Wie ein Tier auf dem Sprung, mal einen Angriff erwartend, zurückweichend, mal bereit, anzugreifen. Alle Muskeln angespannt, die Tätowierungen zucken. Beginnt der Körper röchelnde Laute auszustoßen, schwellen die Nackenmuskeln. Dies ist Arbeit, nicht Kunst.

Am Anfang aber war das Fleisch: ein kleiner Punkrocker, geboren in Washington, D.C., der wie alle kleinen Punkrocker die Sau rausließ. Erst heute nennt der Körper sich Henry Rollins, ist breit und muskulös und sehr viereckig. Es hat einige Jahre gedauert, bis genügend Eisen gestemmt war, damit der Körper soweit war, die vielfältigen Aufgaben zu übernehmen, die sein Besitzer für ihn vorgesehen hat, aber jetzt scheint er fertig modelliert zu sein. Gerade rechtzeitig, um Rockstar zu werden, oder Literaturpapst, oder Label- Tycoon oder... Die Welt, so scheint es, sie steht diesem Körper offen.

Bevor es soweit war, mußte eine Hardcore-Band einen damals noch recht dünnlichen Jungspund überreden, bei ihnen das Mikrophon in die Hand zu nehmen und nach Los Angeles umzuziehen. Die Band hieß Black Flag und wurde im weiteren Verlauf unserer Geschichte zur bedeutendsten Punkband der Vereinigten Staaten. Auf dem Weg dahin fand er straight edge und machte diesen Lebensentwurf zu dem seinen. Lange bevor straight edge zu einem beherrschenden Moment in der Hardcore-Szene wurde und nicht selten auch mit einer fast makrobiotischen Geistessektiererei einherging, spielte Rollins den Vorreiter und gestaltete Körper und Kopf durch Abstinenz, Vegetarismus, Training und Tätowierungen nach seinem Willen. Kein Alkohol oder sonstige Drogen, kein Nikotin, statt dessen tägliches Eisenstemmen und eine Tattoo-Sammlung, die die Weiterentwicklung des Körpers begleitend kommentierte.

Daß ihm Kneipenbesuche fortan kein Vergnügen mehr bereiteten, verschaffte ihm sogar noch mehr Zeit: „Was ich auch mache, es befriedigt mich alles. Ich bewundere so jemanden wie Man Ray, der fotografierte, bildhauerte, Filme machte, egal was, der einfach Kunst machte. Heutzutage sind alle so spezialisiert, und da ist ja auch nichts Falsches dran. Aber auf einer anderen, niedrigeren Ebene versuche ich auch sowas wie Man Ray.“

Der Körper, durch Tattoos wie die legendäre, den Rücken fast vollständig bedeckende Sonne mit dem Schriftzug „Search and Destroy“ für die Unendlichkeit gekennzeichnet, ist nun 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Henry Rollins, „the hardest working man in Hardcore“ (wie ihn das Magazin Visions ebenso einfallslos wie treffend nannte), und er hat viele Aufgaben. Sein Imperium gliedert sich wie folgt: Rollins hat einen Verlag, der neben unbekannten AutorInnen zur Zeit Bücher von Alan Vega, dem ehemaligen Sänger der Elektro-Pioniere Suicide, und Iggy Pop herausbringt. Gerade abgeschlossen hat der Herausgeber selbst die Tourtagebücher aus seiner Zeit bei Black Flag („Ich bin so glücklich, das Ding fertig zu haben“).

Mit London Records hat er „einen kleinen Deal“. Das Label stellt ihm ein beschränktes Budget zur Verfügung, mit dem er Bands, die er für interessant hält, produzieren kann. Zusammen mit Rick Rubin hat Rollins gerade „Infinite Zero“ gegründet, wo – als Wiederveröffentlichungen – nicht mehr lieferbare Klassiker von Devo, Alan Vega, Gang of Four, Trouble Funk, Iceberg Slim oder Tom Verlaine erscheinen sollen. Auf einer eigenen kleinen Plattenfirma veröffentlicht er „so eine Art Avant- Jazz-Zeugs“, u.a. das Solo-Album des Rollins-Band-Gitarristen Chris Haskett.

Er macht weiter seine Spoken- Words-Touren, seine Spoken- Words-Platten, liest mal da und dort mit anderen (gerne Lydia Lunch oder Hubert Selby) und hat, beinahe hätten wir es vergessen, ja auch noch eine Band. Diese, die Rollins Band, hat auch gerade eine Platte veröffentlicht und tourt quer über den Planeten. Das Werk heißt „Weight“ und ist recht metallisch geraten, eine Entwicklung, die nachgerade nicht sonderlich überrascht, wenn man bedenkt, daß sich Black Flag 1990 auflösten, als Gitarrist Greg Ginn und Bassist Chuck Dukowski so'n Avant-Jazz- Zeugs machen wollten.

Der Körper muß in den Diensten dieses Imperiums viel schreiben, viel produzieren, viel verlegen und viel Musik machen. Und dann muß er auch noch repräsentieren wie der Prince of Wales. Auf der Pressekonferenz läuft Rollins trackerditack. Zu jedem Thema kommt die Antwort maschinengleich – ob nun Bill Clinton („ein guter Mensch in einer gemeinen Situation“) oder Ice-T („unterschiedliche Realitäten, unterschiedliches Böses“). Dabei sitzt der Körper da vorne hinter dem Tisch, auf dem sich die Mikrophone quetschen, und läßt den quadratischen Kopf sich unten etwas verbreitern oder schmaler werden. Ein Lächeln oder ernstes Kräuseln, immer freundlich, immer der Situation angemessen, immer die Antwort parat, und wenn Fragen fehlen, dann übernimmt Rollins die Gesprächsleitung selbst.

Kein Zweifel, er ist hier, um exakt das zu tun, wozu Pressekonferenzen oder Interviews eben da sind: Werbung. Nicht weniger, aber ganz bestimmt nicht mehr. Die lästigen, aber unvermeidlichen Repräsentationspflichten löst die

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

ser Körper, der auch durch Tausende von Presseterminen gestählt wurde, mindestens ebenso professionell wie der von Prince Charles, der seit seiner Geburt auf diese Aufgabe vorbereitet wurde. Die einzigen Fragen, die Rollins mit Verve beantwortet, sind die direkten zu seiner Arbeit: Worum geht es im neuen Video? Wer spielt in der Band? Welche Bücher verlegt er? Gewürzt mit der einen oder anderen Geschichte, damit man auch was zu schreiben hat. So wird selbst die Pressekonferenz zum gemütlichen Beisammensein.

Immerhin einen unschätzbaren Vorteil gegenüber dem britischen Thronfolger besitzt Henry Rollins: Er hat kein Privatleben. Die Frage nach persönlichen Beziehungen bringt die Frage-Antwort-Maschine Rollins tatsächlich für einen Moment zum Stocken: „Die meisten Menschen, die ich freundschaftlich kenne, arbeiten für mich, im Verlag oder sonstwo. Oder ich spiele mit ihnen in der Band, produziere ihre Platten oder verlege ihre Bücher. Ich kenne nicht viele Leute, die mich einfach anrufen und fragen: ,Hey, was machst Du so?‘“ Und schon wieder funktioniert die Maschine wie geölt: Was interessiert ihn am Modell Band? „Die Idee, daß fünf Leute eine Sache machen.“

Aber Geschichten können Freunde ersetzen. Und Henry Rollins kennt viele Geschichten. Es gibt zwei verschiedene Sorten. Die meisten sind kurz und witzig. Sie sollen das Publikum aufnahmebereit machen für die zweite Sorte, das Gleichnis, das bei keinem Auftritt, ob Lesung oder Pressekonferenz, fehlen darf. Das Gleichnis benötigt Authentizität, deshalb passiert es „the other day“, und es passiert einem selbst oder zumindest dem „Freund eines Freundes“.

In einem Henry-Rollins-Gleichnis bricht das Grauen aus dem schnöden, friedlichen Alltag hervor wie in einem 08/15 gefertigten Horrorfilm: küssende Pärchen am Straßenrand, Schüsse aus einem vorbeifahrenden Auto, Tote aus nichtigen Gründen. Oder das Grauen wird Song: „Drive By Shooting“ (1986 unter dem Pseudonym Henrietta Collins and the Wifebeating Childhaters als EP erschienen). Obwohl Rollins besessen scheint von diesen Geschichten, bleibt er Patriot: „Ich wollte nie weg aus den USA. Ich war auf der ganzen Welt, aber ich mag Amerika wirklich. Das einzig Blöde ist, daß man auf die Straße gehen und erschossen werden kann.“

Unbeantwortet bleibt die Frage, wohin dieser Körper soll, dieser Mensch will. Warum ein Mensch so der Arbeit verfallen ist, obwohl er nichts braucht als ein Paar schwarze Shorts und ein T-Shirt zum Wechseln. Es ist der Drang, aus dem auch straight edge geboren wurde: Sich selbst disziplinieren, geistig und körperlich fit zu sein, um die Kontrolle über das eigene Leben zu behalten. Niemals kann es Henry Rollins passieren, daß er im Drogenrausch einen Knebelvertrag unterschreiben würde. Daß er sich so vom Rock 'n' Roll als Musik des Bauches entfernt, akzeptiert er trotzdem nicht. Warum zerfasernde Leichen auf der Bühne sehen wollen, wenn man 80 Minuten konzentrierte Höchstleistung haben kann?

Viele schon haben versucht, den Übergang zum großen Erfolg ohne Verlust an Leib und Seele zu überstehen und sind gescheitert. Aber bisher war noch keiner so auf den Punkt in Form gebracht wie Henry Rollins, demnächst als Hercules in einer Neuverfilmung von „Die Ställe des Augias“ zu sehen. Und eigenartigerweise perlen alle Zweifel an der Integrität dieses Mannes ebenso selbstverständlich an ihm ab wie die Camilla-Parker- Bowles-Affäre an Prince Charles. Dazu, meine Freunde, ist dieser Körper und dieser Geist zu gut trainiert. Aus dem kleinen Punkrocker, der „leicht einzuschüchtern“ war (Greg Ginn 1989 in Spex) ist einer geworden, der sich gewappnet hat, um nicht vom Schicksal der „Icon“ aus dem gleichnamigen Song auf „Weight“ ereilt zu werden:

„Tragic hero coming down hard

The joke's on you, you got played like a deck of cards“

Rollins Band: „Weight“. Imago/ BMG.