Szenen einer Begriffsehe

Wenn die „gender“ nicht mehr mit dem „sex“ – Wie der Konstruktivismus beides unter Diskurs abbucht, den Körper aber nicht zu fassen kriegt  ■ Von Gesa Lindemann

Seit den 60er Jahren hat es sich eingebürgert, das im Deutschen so einheitlich bezeichnete Phänomen Geschlecht begrifflich in eine Zweikomponentenmixtur zu zerlegen, die aus einem natürlichen biologischen (sex) und einem sozialen beziehungsweise kulturellen Anteil (gender) besteht. In den 80ern und verstärkt den beginnenden 90ern kehrt sich die Entwicklung wieder um: Nicht nur Feministinnen geben die Zweikomponententhese auf und wenden sich wieder einem einheitlichen Geschlechtsbegriff zu, allerdings nicht im Zeichen der Natur, sondern der Kultur. Danach ist schon die Unterscheidung zwischen zwei Geschlechtern ein kulturelles Phänomen. Bekannt geworden ist dieser Gedanke unter dem Namen „soziale Konstruktion des Geschlechts“. Die zentralen Arbeiten stammen zum einen aus der Tradition des Poststrukturalismus und zum anderen aus der der Ethnosoziologie.

Der Versuch, die sex-gender- Begriffsehe zu scheiden, ist nicht nur eine intellektuelle Herausforderung, sondern hat auch interessante politische Implikationen. Wenn nämlich schon die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern ein kulturelles Phänomen ist, verschiebt sich auch der Ansatz für die Analyse von Machtasymmetrie. Die Prämisse, daß letztinstanzlich anhand ihrer Körper differenzierte Geschlechter zueinander in ein asymmetrisches Verhältnis gesetzt werden, wird durch die andere Prämisse ersetzt, wonach schon die Struktur der Unterscheidung die Asymmetrie erzeugt. Entsprechend kann es nicht mehr darum gehen, Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern, das heißt bereits unterschiedenen Geschlechtern, zu verändern. Solange nämlich die Struktur der Unterscheidung unangetastet bleibt, wird in der Veränderung gerade das reproduziert, was die Asymmetrie erzeugt: die Form der Geschlechterunterscheidung.

Eine konstruktivistische Herangehensweise birgt dagegen zumindest im Prinzip die Möglichkeit, Machtasymmetrien fundamentaler zu untersuchen als andere Ansätze.

Voraussetzung dieser Radikalität politischen Denkens ist allerdings, daß die sex-gender-Differenz tatsächlich aufgegeben wird. Das erfordert mehr intellektuelles Raffinement als die meisten der im Handel befindlichen Konstruktionsansätze aufzubieten vermögen. Wenn Geschlecht als Ganzes zum Gegenstand einer sozialwissenschaftlichen Forschung gemacht wird, muß auch der Geschlechtskörper, der früher gelegentlich auch „biologisches Substrat“ hieß, mit genuin sozialwissenschaftlichen Methoden untersucht werden. Zu begreifen gilt es dabei, daß der Körper als Gegenstand ein neuartiges Herangehen erfordert.

„sex“ und „gender“ verweisen aufeinander

sex und gender bilden ein Begriffspaar, dessen Bestandteile notwendig aufeinander verweisen. Da in der konstruktivistischen Geschlechterforschung diese Verbindung im Zeichen der Kultur also in Richtung gender aufgelöst werden soll, stellt sich die Frage, ob die Aufgaben, die das Paar bewältigte, auch von einem Bestandteil allein gehandhabt werden können. In der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung erfüllte die sex-gender-Differenz mindestens drei zentrale Funktionen.

1. Sie markiert durch eine terminologische Festschreibung Zuständigkeitsbereiche von Wissenschaften. Mit der Einführung der Kategorie gender ist gegen die Übermacht und das Renommé der Naturwissenschaften begrifflich ein Terrain für die Sozialwissenschaften reserviert, das sie legitimerweise als ihr Feld beanspruchen dürfen. 2. Der Term sex steht für den geschlechtlichen Körper, den wir sehen und tasten und leiblich zum Beispiel in Schmerz und Lust spüren können. 3. gender bezeichnet das am Geschlecht, das historisch variabel und somit veränderbar ist, während sex das Unverfügbare der Geschlechterdifferenz signalisiert und damit der alltäglichen Erfahrung Rechnung trägt, wonach die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen ein unhintergehbares Faktum darstellt.

Die erste Funktion der sex-gender-Differenz ist durch die Wissenschaftsentwicklung einfach überflüssig geworden. Angestoßen durch eine Radikalisierung wissenssoziologischer Fragestellungen für die etwa Foucault und Kuhn stehen, hat sich seit den 60er Jahren im Feld des Wissens eine Veränderung vollzogen, in deren Rahmen die sozial- und Geisteswissenschaften ein neues Selbstbewußtsein entwickelten. Die Annahme einer sozialen und kulturellen Determiniertheit auch des naturwissenschaftlichen Wissens führte in der Geschlechterforschung geradezu eine Umkehrung des Verhältnisses von Sozialwissenschaften und Biologie herbei. Dieser wird nicht mehr zugestanden, das ahistorische Fundament der Geschlechterdifferenz zu erforschen.

Es gilt vielmehr umgekehrt, daß die Biologie mit ihrer Suche nach geschlechterunterscheidenden Merkmalen an den Körpern lediglich die alltägliche Obsession, alle Menschen geschlechtlich einzuordnen, mit elaborierten Methoden fortsetzt.

Auf der Grundlage dieser Verschiebung im Feld des Wissens wird das Geschlecht von der konstruktivistischen Forschung als Ganzes beansprucht. Sie bescheidet sich nicht mehr damit, den kulturellen Zierrat harter biologischer Fakten als ihren Gegenstand zu betrachten. In der Konsequenz handelt sich die konstruktivistische Geschlechterforschung allerdings Probleme ein, auf deren Lösung sie nicht gerade optimal vorbereitet ist. Die Kategorie sex meint nämlich nicht nur den Körper als Objekt wissenschaftlicher Verfahren, sondern auch den Körper, dessen Formen wir alltäglich vorfinden und ohne jede wissenschaftliche Vorbildung sehen, tasten und leiblich spüren. Dies Phänomen entgeht konstruktivistischen Analysen fundamental, und zwar nicht, weil sie es verabsäumen, einem präkulturellen Rest ihre Ehrerbietung zu erweisen, sondern aufgrund ihres methodisch-begrifflichen Zugangs. Sowohl ethnosoziologische als auch poststrukturalistische Studien kommen nämlich darin überein, fixe Gegebenheiten in einen Prozeß aufzulösen.

Dieser wird von Judith Butler als „Signifikationsprozeß“ und damit wesentlich nach dem Modell der Sprache gedacht, das heißt als eine Artikulation, in der und durch die allererst differenzierte Entitäten wie Subjekte und gesellschaftlich fixierte Körper entstehen. Die Enthnosoziologie arbeitet zwar überwiegend mit einem traditionellen Subjektbegriff; aber auch sie versteht die Wirklichkeit als das Resultat eines Konstruktionsprozesses, der von den an ihm Beteiligten ununterbrochen am Laufen gehalten werden muß.

Die Prozessualisierung führt unweigerlich zu einer absoluten Dominanz der Zeitlichkeit in konstruktivistischen Arbeiten. Dies ist zwar bei sprachlichen Phänomenen durchaus angebracht, führt aber bei der Untersuchung zum Beispiel visuell wahrgenommener unweigerlich zu Verzerrungen. Es gehört nämlich zu den Grundeinsichten der klassischen Gestalttheorie, daß gesehene Gestalten simultan als Ganzheiten erfaßt werden, deren Teile erst vom Ganzen der Gestalt her ihren Sinn erhalten. Bei einer Prozeßanalyse geht es dagegen darum, den Vorgang zu untersuchen, in dem etwas, das als Ganzes erfahren wird, aus Elementen aufgebaut wird. Das Verhältnis von prozessualen und simultanen Synthesen ist also bei sprachlichen Phänomenen und bei räumlichen Gestalten umgekehrt.

Solange die Kategorie sex bereitstand, um all das aufzufangen, was in der Analyse von gender keinen Platz fand, brauchte man sich um solche Differenzierungen nicht zu kümmern. Wenn sex aber verabschiedet werden soll, treten die methodischen Restriktionen der gender-Geschlechterforschung deutlich hervor.

Den Körper in ein Salzsäurebad gelegt

Konstruktivistische Analysen berühren alle möglichen interessanten Dinge, verfehlen aber einen Gegenstand ihrer Sehnsucht konsequent: den Körper als ein raum- zeitliches Phänomen. Solange der Körper nur in einer zeitlich-prozessualen Perspektive untersucht wird, ist es, als würde man ihn in ein Salzsäurebad legen, um sich hernach zu wundern, daß man ihn einfach nicht zu fassen bekommt. Die konstruktivistische Analyse läßt dem Geschlecht noch weniger Körper, als nötig wäre, um wenigstens über ihn zu sprechen. So kann man wie Butler in „Bodies that matter“ ein ganzes Buch lang nichts über Körper sagen, obwohl er unentwegt in die Analyse eingegeben wird: Sowie er drin ist, ist er aufgelöst. Die Emsigkeit, mit der sie das betreibt, hat aber ihren guten Grund: Butler weiß, daß die Kategorie sex solange nicht verabschiedet werden kann, wie der Körper nicht konstruktivistisch begriffen ist. Nur wer sich diese Mühe sparen möchte, kann sich an Derrida ein Beispiel nehmen, der von „Heideggers Hand“ geleitet durchaus weiß, wo diesseits diskursiver Prozesse das zu ergreifen wäre, was Barabara Vinken in rührender Naivität als „biologisches Substrat“ der Geschlechterdifferenz bezeichnet; so wird mitten in der schönsten Dekonstruktion die sex-gender-Unterscheidung reinthronisiert. Wer sich ausschließlich auf Prozeßanalysen verlegt, landet nahezu notgedrungen wieder in der trauten Ehe von gender und sex.

Bleibt die dritte Funktion der Kategorie sex, die Unverfügbarkeit der Zweigeschlechtlichkeit für voluntaristische Veränderungen zu markieren. Die Herausforderung liegt darin, zu begreifen, daß wirkliche Geschlechter einerseits soziale Konstruktionen sind, anderersits aber Konstruktionen für die an ihnen Beteiligten eine unhintergehbare Realität bilden, die sie hinnehmen müssen. Der beschwörende Abrakadabrasatz, daß Konstruktion etwas anderes meint als Irrealisierung, fehlt zwar in kaum einem konstruktivistischen Text zum Körper und kann durchaus als Anerkennung des Problems gelten, kaum aber als Beitrag zu dessen Lösung.

Auch hier liegt die Schwierigkeit in der Reduktion auf die zeitliche Dimension. Die Realität wird gleichsam verflüssigt, indem sie relativ auf einen Signifikations- beziehungsweise Konstruktionsprozeß gedacht wird. Auf diese Weise wird aber systematisch die je situativ sich ereignende Fixierung von Wirklichkeit zu etwas, das hingenommen werden muß, ausgeblendet. Das hat zur Konsequenz, daß die Statik und Beharrlichkeit des Geschlechterbinarismus unbegriffen bleibt. Das ungelöste sachliche Problem verleitet sogar zu einer Art neoexistentialistischen Ethik des Transzendierens, die das Faktum der Hinnahme von Wirklichkeit nur noch denunzieren kann. Regine Gildemeister und Angelika Wetterer überschreiben ihre Darstellung der ethnomethodologischen Variante der Geschlechtskonstruktion: „Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung“. Dabei lassen sie keinen Zweifel daran, daß „Reifizieren“ keinen Deut besser ist als eine „Naturalisierung“, bei der soziale Sachverhalte im Interesse der Herrschaftssicherung als naturbegründet ausgegeben werden. In Anbetracht des sich auch in Texten der Frauenbewegung monoton wiederholenden Glaubenssatzes, die Geschlechter seien mit Bezug auf ein vorsoziales Substrat unterschieden, ist der Gestus pejorativen Argumentierens sicher verständlich. Aber auf diese Weise lassen sich nur theoretische Texte kritisieren, bei einer Analyse der Macht des realen Alltags hilft Besserwisserei nicht weiter.

Die Dimension des Raumes muß eingearbeitet werden

Obwohl also die defensive Funktion der sex-gender-Unterscheidung, die den Sozialwissenschaften mit der Kategorie gender überhaupt erst systematisch einen Zugang zum Phänomen Geschlecht sicherte, durch die Entwicklungen im Feld des Wissens hinfällig geworden ist, bleiben noch zwei Funktionen dieser Differenzierung übrig, die eine ungelöste Herausforderung für die meisten der gegenwärtigen Konstruktionsansätze bilden. Um die Begriffsehe zwischen sex und gender zu scheiden, ist es nämlich unerläßlich, die Dimension des Raumes in ihren vielfältigen Facetten in die Konstruktion einzuarbeiten. Das ist aber nur eine andere Formulierung dafür, den Konstruktionsansatz von Grund auf neu zu entwickeln.

Wer diesen Umbau vermeiden möchte – wie die meisten poststrukturalistischen und ethnosoziologischen AutorInnen, tut besser daran, weiterhin zwischen sex und gender zu differenzieren, denn die Kategorie sex ist der ideale Mülleimer für alle Probleme, die eine prozessual bornierte Methodik nicht erfassen kann. Man kann es auch anders sagen: Solange konstruktivistische Analysen der Geschlechterunterscheidung über jeden Verdacht einer wahrnehmungstheoretischen Fundierung erhaben sind, brauchen sie die Kategorie sex.