Kaukasische Wirren und russische Macht

■ Hoch in den Bergen Tschetscheniens lebt eine alte kriegerische Vergangenheit neu auf

Moskau (taz) – „Säbelwetzend kriecht ans Ufer der wilde Tschetschene“, dichtete der russische Poet Lermontow im 19. Jahrhundert. Sechzig Jahre lang zog sich damals der russische Eroberungskrieg im Kaukasus hin. Tschetschenen und Inguschen, zusammen weniger als eine halbe Million moslemischer Urkaukasen, wurden schließlich 1944 von Stalin nach Zentralasien deportiert; 1957 konnten sie zurückkehren. Die Inguschen besetzten dabei auch Lebensräume, die heute offiziell zum benachbarten Nord-Ossetien gehören. Dies führte zu blutigen Konflikten. Als General Dschochar Dudajew 1991 die völlige Autonomie Tschetscheno-Inguschetiens gegenüber Rußland erklärte, kehrten ihm die Inguschen den Rücken und unterzeichneten den Russischen Föderationsvertrag, was ihnen einen fragilen Frieden bescherte. Der tschetschenische Rest der ehemaligen autonomen Republik führte fortan sein wenig beachtetes Eigenleben.

Bis Ende letzter Woche die Köpfe auftauchten. Das russische Fernsehen zeigte deren drei, abgeschlagen auf einem Platz der tschetschenischen Hauptstadt Grozny (auf Deutsch übrigens: Grausam). Im Kommentar hieß es, ihre Ex-Träger seien von General Dudajew bestraft worden, weil sie den russischen Sicherheitskräften im Mai bei der Aufklärung eines Geiseldramas geholfen hätten. Sergej Schachraj, Kaukasus-Spezialist in der russischen Regierung, hält das für Unsinn. Boris Jelzins Vorzimmerherr Sergej Filatow dagegen nahm die Köpfe flugs als Beweis für den barbarischen Charakter des tschetschenischen Regimes. Am Dienstag schließlich erklärte auf russischen Fernsehschirmen Umar Awturchanow, Führer eines „provisorischen Rates“ der tschetschenischen Oppositionsgruppen, Dudajew für abgesetzt. Hinter seinem Rücken – so munkelte man – steht ein Mensch namens Doka Sawgajew, ein tschetschenischer Politiker, der im Apparat des Präsidenten Jelzin arbeitet.

Der „abgesetzte“ Dudajew telefonierte seelenruhig aus seinem Büro in alle Welt und beschuldigte die Russen gewaltiger Truppenkonzentrationen an seinen Staatsgrenzen. Klar wurde, daß Moskau plötzlich den Umsturz in Tschetschenien herbeiführen wollte. Aber warum gerade jetzt? Der Zeitpunkt verweist auf das Geiseldrama in Wladikawkas, das letzte Woche sechs Todesopfer forderte. Am 29. Juli beeilte sich Jelzin-Berater Emil Pain, die Geiselnehmer „Repräsentanten Tschetscheniens“ zu nennen. Beigetragen zur plötzlichen Aktivität der russischen Regierung hat wahrscheinlich auch das politische Comeback des gebürtigen Tschetschenen und Ex-Sprechers des russischen Obersten Sowjets, Ruslan Chasbulatow. Er, dessen friedensstiftende Qualitäten vom blutigen Kampf um das Moskauer Weiße Haus im letzten Oktober her noch der ganzen Welt in Erinnerung sind, bot sich in der zweiten Julihälfte mehrere Male den verschiedenen tschetschenischen Oppositionsgruppen als Friedensmakler an und beklagte das himmelschreiende Elend seiner Landsleute.

„Nach dem Vorbild des 17. Jahrhunderts“

Daß es in Tschetschenien nicht zum besten steht, bezeugen die Flüchtlinge von dort. Ihre Gegenwart kompliziert dazu die ohnehin prekäre Lage in Nord-Ossetien. Dorthin führt durch Tschetschenien Rußlands einzige Landverbindung in den Transkaukasus – eine heute praktisch unbenutzbare Eisenbahnlinie, denn bewaffnete Banden betrachten die Waggons als Selbstbedienungsangebot.

Die tschetschenische Frage hat also auch einen kriminologischen Aspekt. „Einen Staat nach dem Vorbild der Filibuster-Republiken im West-Indien des 17. Jahrhunderts“, nennt Pawel Felgenhauer, Kommentator der Tageszeitung Segodnja, das Land, „eine Waffen- und Drogen-Quelle, sicherer Schlupfwinkel für Verbrecher und für die von ihnen zusammengerafften Güter.“ Felgenhauers Schluß: Rußland und Tschetschenien können nicht mehr nebeneinander existieren, weil die Freiheit des zweiten Staates die des ersten beeinträchtigt. Natürlich ist Tschetschenien in Wirklichkeit nicht der einzige Brutherd für die organisierte Kriminalität in Rußland. In den letzten Tagen wirken die russischen offiziellen Verlautbarungen zum Problem wieder abwiegelnd. Auch macht Präsident Jelzin keine Miene, Awturchanows „provisorischen Rat“ als neue tschetschenische Regierung anzuerkennen.

Awturchanow hat sich mit etwa zweitausend Kämpfern in der unzugänglichen Hadteretsch-Provinz eingeigelt. Näher an der Hauptstadt Grozny, im nur 25 Kilometer entfernten Städtchen Argun, residiert die „Partei der Gerechtigkeit“ Ruslan Labasanows. Dieser mit Waffen und Goldschmuck wie ein Weihnachtsbaum behangene 27jährige „Robin Hood“ verfügt über eine unbekannte Zahl technisch ohne Zweifel hochgerüsteter Kämpfer. Mit ihnen lieferte er Dudajew im Juni eine blutige Schlacht. Sonst existiert in Moskau noch eine „Exilregierung“, die niemanden repräsentiert außer sich selbst.

Wahrscheinlich bräuchte sich Dudajew im Falle eines Bürgerkrieges nicht gleich geschlagen zu geben. Erst als Partisan wird man im Kaukasus zum klassischen Helden. Im Falle einer russischen Intervention aber, so schätzt Musa Schanibow, Präsident der Konföderation Kaukasischer Völker, kämen bestimmt Einheiten aus anderen Völkern seiner Konföderation, vor allem Daghestaner und Inguschen, Dudajew zur Hilfe.

Im vorigen Jahrhundert, berichtet die Iswestija, „brauchte Rußland für seine Befriedungsaktion am Terek ein Viertel seines Staatsbudgets und fast eine halbe Million Soldaten“. Die Aussichten für die junge russische Demokratie wären absehbar, falls sich ähnliches wiederholte. Barbara Kerneck