Die Textilindustrie stirbt leise

Seit 1989 sind 60 Prozent aller Textilarbeitsplätze in Deutschland verschwunden / Unternehmer und Gewerkschafter jammern unisono  ■ Von Hugh Williamson

Berlin (taz) – Deutschland importiert und exportiert mehr Textilien als fast alle anderen Länder der Welt. Trotzdem steckt die hiesige Textilbranche seit Jahren in der Krise. Viele Firmen sind pleite gegangen, die Branche verlor im Westen seit 1989 54.000 Jobs, ungefähr ein Viertel der Arbeitsplätze. Schließt man die neuen Bundesländer ein, beträgt der Arbeitsplatzabbau sogar 60 Prozent.

Die Bekleidungsbranche hat durch die Verlagerung in die Billiglohnländer in Südostasien und Osteuropa fast keine Produktionskapazitäten mehr in Deutschland. Ein paar Unternehmen lassen hier zwar noch Kleidungsstücke fertigen, aber kaum mehr als 20 bis 30 Prozent ihrer Gesamtproduktion.

Doch alles ist relativ: Insgesamt hat die Branche heute 280.000 Beschäftigte. Immer noch mehr als die Stahl- und Kohleindustrie zusammen, wie das bei Unternehmen und der Gewerkschaft Textil und Bekleidung (GTB) beliebteste Argument lautet. „Der Unterschied ist“, sagt der bayerische GTB-Chef Siegfried Paintner, „daß wir nicht auf die Straße gehen“. Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen in der Textilbranche sind sich einig, was für ihre Industrie nötig wäre: staatlicher Schutz vergleichbar mit dem in anderen deutschen Industriesektoren und dem, den die Textilindustrie in anderen Ländern genießt.

Ein Beispiel für die Praxis, die hinter diesen Tendenzen steht, ist die Steilmann GmbH in Bochum- Wattenscheid. Der größte Hersteller für Damenoberbekleidung in Deutschland, der daneben noch Herrenkonfektion und Kinderkleidung produziert, schaffte 1993 einen Umsatz von 1,6 Milliarden Mark. Fast jedes zweite von Steilmann jährlich 26 Millionen Kleidungsstücken wird exportiert.

Produktionsverlagerung in Billiglohnländer

„Heute sind wir eins der ganz wenigen deutschen Bekleidungsunternehmen, das überhaupt noch deutsche Produktionsstätten hat“, sagte Geschäftsführer Michael Spangenberger neulich auf einer von den bayerischen Grünen veranstalteten Tagung in Augsburg. In den vergangenen Jahren hat das 1958 gegründete Unternehmen ein Fünftel seiner Kleidungsstücke in Deutschland fertigen lassen. Die „Standort-Deutschland-Politik“ war laut Spangenberger ein Grund für den guten Ruf von Steilmann.

Doch diese Zeiten sind vorbei. In den letzten zehn Wochen schloß Steilmann zehn Fabriken, in denen 700 Personen beschäftigt waren. Schuld sei der Preiskrieg in den Bekleidungsabteilungen der Kaufhäuser. Die Fabriken verloren dem Geschäftsführer zufolge Millionen Mark im Jahr. Bereits im vergangenen Jahr vermeldete Steilmanns Jahresbericht, daß die Zahl der Beschäftigten in Deutschland von 7.500 auf 5.400 reduziert wurde.

Der Abbau der hiesigen Produktion wurde kompensiert durch den Aufbau neuer, kosteneffektiverer Produktionsstätten in Osteuropa. „Seit 25 Jahren produzieren wir in Rumänien, und heute beschäftigen wir 25.000 bis 30.000 Leute dort“, sagt Spangenberger. Auch Bulgarien, Tschechien und die Ukraine gehören zu den kostengünstigen Steilmann-Produktionsstandorten sowie sicherlich auch die südostasiatischen Produktionsstätten, etwa in China, Hongkong, Indien, Indonesien und Laos. Sogar in Nordkorea wird Kleidung für Steilmann genäht, unter anderem Jacken.

Es gibt kaum noch billigere Billiglohnländer und wenige Länder, in denen Arbeiter noch stärker ausgebeutet werden. „Steilmann hat noch einen guten Ruf, aber jetzt wandern sie wie andere Arbeitgeber auch ständig von Land zu Land, um billigere Löhne zu finden“, sagt ein GTB-Sprecher in Düsseldorf.

Die Näherin in Deutschland hat kaum noch eine Chance

Kinderarbeit? „Steilmann und unsere Lieferanten benutzen sie nicht“, sagt Spangenberger. Doch er gibt selbst zu, daß seine Firma die örtliche Kultur oder den Lebensstandard nicht völlig ignorieren kann. Ob bei Steilmann oder anderen Textilherstellern, die Zukunft der Textilarbeiterinnen und Näherinnen in Deutschland sieht nicht gut aus. Daß das Welttextilabkommen im Jahr 2005 ausläuft, wird mehr Wettbewerb für die deutsche Textilindustrie bedeuten. Der teilweise noch bestehende Schutz vor Billigimporten wird dann zu Ende gehen.

Textil-Gewerkschafter Paintner ruft darum schon jetzt nach „politischem Flankenschutz“. Er fordert Subventionen, wie sie der Kohlebergbau bekommt, aber auch bessere Kontrollen gegen den Musterdiebstahl sowie gleiche Umweltschutzauflagen zumindest innerhalb der EU. Die Textilunternehmer und die Gewerkschafter jammern unisono, daß Umweltauflagen in Deutschland viel strenger seien als anderswo und daher die Kosten höher. Die GTB verlangt zudem auch Sozialklauseln in internationalen Handelsabkommen. Ohne solche Programme, sagen die Gewerkschafter, wird die Voraussage von Steilmann-Geschäftsführer Spangenberger Realität werden: „Ich glaube nicht an die Zukunft der Produktion von Textil und Bekleidung in Europa. In ein paar Jahren gibt es für Deutschlands Näherinnen mit einem Bruttolohn von 2.500 Mark kaum eine Chance mehr.“