„Das Phänomen Mensch ist unkalkulierbar“

■ Stauberater Martin Mühlbauer vom ADAC Südbayern berichtet von der Stoßstangenfront und dem abwechslungsreichen Leben im Stau der anderen

taz: Herr Mühlbauer, Sie haben zwölfjährige Stauerfahrung. Sind denn auch die deutschen Autofahrer stauerprobter geworden?

Martin Mühlbauer: Sie haben gelernt, sich über die Woche zu verteilen. Aber an manchen Wochenenden vergessen sie alles, und prompt haben wir wieder 160 Kilometer Stau. Das Phänomen Mensch ist einfach unkalkulierbar.

Haben die Autofahrer gelernt, den Stau zu akzeptieren und gelassener zu werden?

Also, daß sich die Leute im Stau eins auf die Mütze geben, das hat sich nicht bestätigt. Die sind relaxt. Man hat Urlaub, man hat Zeit. Man hat inzwischen auch genug zu trinken und zu essen dabei. Es hapert aber im Umgang mit den Kindern.

Wo fehlt's da?

Die Eltern kennen zu wenig Spiele, die können die Kinder nicht mehr beschäftigen.

Was sollen sie denn spielen?

Also mit Autokennzeichen kann man spielen. Wer hat als erster zehn Hamburger Kennzeichen gesehen. Ich sehe was, was du nicht siehst, das hat die Farbe rot – das ist ein schönes Spiel. Kleine Würfelspiele kann man auch prima im Auto spielen oder im Grünen neben der Leitplanke, wenn's länger dauert.

Wieviele kollabierte Autofahrer haben Sie in Ihren zwölf Jahren erlebt?

Zwei. Das war aber mehr die medizinische Seite. Also Leute, die vom Bluthochdruck her gut beieinander waren. Voluminös, etwa 120 bis 150 Kilo schwer, dann noch die Hitze dazu, der Streß, die davonlaufende Zeit, man muß um soundsoviel Uhr im Hotel sein. Da kann sowas schon passieren.

Was machen Sie in diesem Fall?

Wir schau'n, daß die Betroffenen kreislaufstabilisierende Mittel bekommen. Das Auto wird dann von uns weitergefahren.

Ihr schönstes Stauerlebnis?

Das war vor zwei Jahren an einem Samstag kurz vor zehn auf der Ostumgehung von München. Da hat eine Stauberaterin ein neunjähriges Mädchen entdeckt, das an der Raststätte vergessen worden ist. Die waren aus Paderborn mit vier Autos unterwegs, und jeder Fahrer hat wohl gemeint, das Mädchen sei in einem anderen Auto. Da haben wir mit den Motorrädern eine Stafette gebildet. Und tatsächlich haben die Stauberater auf der Höhe Chiemsee den Paderborner Konvoi entdeckt. So haben wir das Mädchen nachgeführt – eine echte Familienzusammenführung, die uns allen zu Herzen ging.

Happy End im Stau?

Wir waren alle sehr gerührt.

Was werden Sie am Wochenende erleben, läuft der Stau- Countdown?

Am Freitag treffen wir uns zur Lagebesprechung. Wir sind ja alle freie Mitarbeiter, die einem festen Beruf nachgehen. Dann werden die Satteltaschen gefüllt. Vor allem mit Spielsachen, aber auch mit Autokarten für die Fahrer, damit sie Staus besser umfahren können. Wir haben natürlich kalte Getränke dabei: Mineralwasser. Süßes Zeug verstärkt nur den Durst. Beruhigungstabletten haben wir noch dabei und unser Telefon.

Haben Sie schon Kinder im Stau zur Welt gebracht?

Bisher nicht. Aber wickeln mußten wir. Ein Vater war allein mit dem zweieinhalbmonatigen Säugling unterwegs zur Oma und stand im Stau. Das Kind schreit und schreit, und dann hat der Stauberater den Braten gerochen. Die haben dann gemeinsam gewickelt. Interview: Manfred Kriener