Kommt da der Astralleib noch mit?

■ Vom Reisen mit kleinen Kindern unter den Bedingungen der Reiseunlust

Jedes Jahr der gleiche schaurige Anblick: Massenhaft werden kleine Kinder gegen ihren Willen in überladene PKW, vollgepfropfte Züge und verspätete Charterflieger gepackt, tausende von Kilometern durch Staus und Hitze rumkutschiert und in fremden Gegenden mit fremden Leuten und fremdem Essen einer brüllenden Sonne ausgesetzt. Keiner fragt die Kinder, was sie wirklich im Urlaub wollen; die Antwort wäre nämlich für die Eltern deprimierend: Sie wollen daheim bleiben. Ein scharfer Interessensgegensatz, der in aller Regel vom Stärkeren entschieden wird: Für Erwachsene ist ein Urlaub ohne Fernreise kein Urlaub.

Im günstigsten Fall kommt es zum Kompromiß. Dafür muß man die Interessen der Kinder genauer kennen. Eine exponierte Position vertreten anthroposophisch orientierte Mediziner - der Arzt wird meist als erster von den Eltern um Rat gefragt. Kleine Kinder, so die Anthros, brauchen ein hohes Maß an gleichförmigem Rhythmus, an Konstanz im Leben. „Jeder Ortswechsel ist für kleine Kinder eine Belastung, extremer Klimawechsel ist geradezu schädlich, selbst eine Abwechslung in der Nahrung entspricht nicht ihrem Bedürfnis,“ sagt Christoph Tautz, leitender Kinderarzt im Klinikum Herdecke.

Insofern ist vom Safariurlaub in Afrika mit der Zweijährigen abzuraten. Nicht nur drei oder vier schwere Impfungen, die manchmal nicht ohne Risiko sind, werden notwendig; für zahllose Kleine wird die Öl- und Scharfbratküche zum Problem. Durchfallerkrankungen sind an der Tagesordnung, weil sich die deutsche Darmflora mit afrikanischen Bakterien nicht auskennt. Und mit den vielen gekühlten Getränken kommt der Organismus oft auch nicht zurecht.

Das Hauptgesundheitsamt Bremen listet unter dem Thema „vollständiger Impfschutz“ nicht weniger als 12 Schutzimpfungen auf. Daneben sei zu berücksichtigen, daß aufgrund des relativ größeren Körperoberfläche-Gewicht-Verhältnisses Hitze auf Kinder stärker wirkt. Zudem können sie sich weniger durch Schwitzen akklimatisieren. Gegen zuviel Sonne sollten sie von oben bis unten mit Kleidung bedeckt sein.

„Die Ferienreise,“ so meint das Gesundheitsamt, „sollte ihrem Wesen nach verbunden sein mit einem großen Abenteuer für die Kleinen und einem kleinen Abenteuer für die Großen.“ Ganz gegen die Reise mit den Kleinen ist ja in Wahrheit niemand der (erwachsenen) Berater. Eine eher strenge anthroposophische Kinderärztin aus Bremen rät nicht ab, sondern gibt nur eine Richtung vor: lieber nicht in den Süden, wo „die Haut platzt wie eine Kartoffel und um 12 Uhr am Strand das Mittagsgeheule losgeht“. Also keine Türkei und kein Tunesien, lieber Skandinavien, Ost- und Nordsee, am besten Bauerhof oder St.-Peter-Ording.

Viele Eltern wollen wissen, ob ein Flug den Kindern zuträglich ist. Der Bremer Kinderarzt Dr. Crasemann hält Fliegen auch bei Babies für unschädlich. Er rät allerdings bei Schnupfen oder Ohrenschmerzen zu einer Untersuchung - wenn bei den Kindern der Druckausgleich im Ohr nicht klappt, kann das schmerzhaft werden.

Eigentlich aber soll die Anreise tunlichst mit dem Schiff oder besser - wie zu Goethes Zeiten - mit der Kutsche erfolgen. Zwar sprechen sie nicht gern darüber, weil man sie auslachen könnte; doch viele Rudolf-Steiner-NachfolgerInnen finden, daß ein langsames Reisen besser wäre. In Kreisen anthroposophischer Halbbildung wird der Wert 100 km/h gehandelt, der nicht überschritten werden soll - andernfalls kommt der „Astralleib“ nicht mit, das „Seelische“. Daher brauche man nach einem Überseeflug so lange, bis man „angekommen“ sei. Die Idee des verspäteten Astralleibs kommt übrigens auch bei Umweltfreunden gut an - „Das wäre ja endlich ein natürliches Tempolimit“, jubelt Dr. Crasemann.

Burkhard Straßmann