Village Voice
: Sag ruhig Rock dazu

■ Echte Freude über den Retro-Terror: Soul Corrosion von Gum

Es soll ja Menschen geben, die sich an diesen ach so schönen Tagen nicht in Schwimmbädern und Brandenburger Seen tummeln, die sich lieber ausdauernd in einschlägigen Lokalitäten wie beispielsweise dem Kreuzberger „PowWow“ erfrischen, dort stilistisch korrekt Tex-Burger und Mex-Bier konsumieren und nicht umhinkommen, die Junk-Musik der Neunziger hören: Stiltskin, Stone Temple Pilots, Smashing Pumpkins und all die anderen Heuler. Da passiert es selbst dem geschultesten Hörer schon einmal, einiges an Namen und Symbolen bezüglich dieser Musik durcheinanderzubringen. Was erlaubt ist und mitunter auch daran liegen könnte, daß der Keeper das kürzlich erschienene Album der Berliner Band Gum in den CD-Player geschoben hat.

Gum hießen früher No Harms und spielten die Pikes, Swings, Blockschocks von Berlin rauf und runter. Nach dem Verschwinden ihres Bassisten in Thailand gönnte man sich eine kreative Pause. Mit neuem Namen, neuem Bassisten und knusprigem Major- Deal kehrte die Band nun auf die Rockbühne zurück.

Schon mit dem Namen No Harms assoziierte man ja das ganze angesagte amerikanische Zeugs von Hüsker Dü, Dinosaur jr. oder Das Damen. Nur hieß das damals eben nicht Grunge oder gar „moderner Generation- X-Rock“ (die bisher wohl ultimativste Formel aus dem Newsletter einer Plattenfirma, phänomenal!), elegant herausgezogene Schubladen, mit denen Gum sich jetzt herumschlagen dürfen. Vehement will man dem ganzen „Business-Scheiß“ die Stirn bieten, vor allem wenn Autonomie und Individualismus auf dem Spiel stehen. Eigenständigkeit heißt das Zauberwort, selbst wenn die Musik amerikanisch klingt: „Man wächst halt mit der gleichen Musik wie die Kids in Amerika auf.“ Und so was nennt sich einfach „Soul Corrosion“, klingt laut und leise, hart und melodiös und backe-backe gefühlvoll. Sag' ruhig Rock dazu, auch Metal oder Pop. Der ist dann schon mal schwermütig und dumpf, und zwar als Widerhall auf Leben und Zeit, was Sven Schumacher, Sänger, Texter und Gitarrist von Gum durchaus angemessen findet, denn: „Schwermut ist doch überall in der Luft, wer läuft denn schon freiwillig mit einem Lächeln durch die Gegend?“ [traurige Einstellung, mit der er aber bestens in diese Hauptstadt der Muffelköppe paßt!! d. säzzer] Zornige, nicht mehr ganz junge Männer machen zornige, abgehangene Musik, und wer denn gleich wieder an Generation X denkt, dem sei das zugestanden. „Trendgelaber“ jedoch soll ihre Sache nicht sein, und wenn ihre Musik nun zeitgemäß ist, dann „weil wir mit offenen Augen durch die Welt rennen“. Da mutieren dann auch die Lyrics schnell zur Therapie, zur Sublimierung von Angst und „funktionieren als Ventil für aufgestauten Leidensdruck“. Beispielsweise steht der ziemlich cool klingende Song „Anything Goes“ laut Sven „für die Schwierigkeit, erwachsen zu werden, ist ein Hilfeschrei des in der Nacht alleingelassenen Kinds“. Doch ohne Hoffnung geht es nicht, denn: „Ich hab' wirklich keinen Bock, mir irgendwann die Kugel zu geben.“ Auch „Make It Today“ spielt mit der Ambivalenz von Frustration und Glücksgefühl, ist das Pendel zwischen Moll und Dur, „ups and downs“, die sich durch das ganze Album schlängeln.

Angesichts des amerikanischen Retro-Rock-Terrors ist man mit Alben wie „Soul Corrosion“ zuerst zwar überfordert und leicht entnervt. Später jedoch, wenn wieder Kapazitäten im Hirn freigeworden sind, ist die Freude riesengroß darüber, auch in Berlin ein bißchen Seattle, Slackertum und lockere Verspanntheit (auch das gibt's!) angesiedelt zu finden. Und ist es nicht eine Ehre, ein Organ zu haben, das aufs stimmigste den Pathos, den Soul und die Verzweiflung zwischen, ja, äh, noch zwei Namen mehr, du weißt, du brauchst sie sehr, Eddie Vedder und Chris Cornell ausbalanciert? Gerrit Bartels

Gum: Soul Corrosion (Sony)