■ Antisemitismus und 20. Juli 1944
: Historische Wahrheit

In Deutschland, so schrieb Carl Goerdeler, das zivile Oberhaupt der Verschwörer des 20. Juli 1944, dürfe man nicht bemänteln wollen, daß Juden „so viehisch hingemordet (werden), wie in der Weltgeschichte nicht bekannt“. Ihnen dürften daher die Rechte nicht versagt werden, „die allen Menschen durch Gott verliehen sind“. Das war im November 1944, Goerdeler saß in Haft. Wenige Monate später wurde der frühere Oberbürgermeister von Leipzig, der 1936 aus Protest gegen die Nazi-Politik zurückgetreten war, gehenkt. Doch Goerdeler, den die offizielle Politik mitsamt anderen konservativen Widerständlern zu Ikonen der bundesdeutschen Geschichte meißeln will, schrieb auch jenen Satz, der allzugerne vergessen wird: Daß man „auf die große Schuld der Juden hinweisen (müsse), die in unser öffentliches Leben eingebrochen waren in Formen, die jeder gebotenen Zurückhaltung entbehrten“. Solche Sätze, getragen vom Tenor des klassischen Antisemitismus, finden sich auch bei anderen Widerständlern des 20. Juli. Die Forderung einer jüdischen Gruppe, den antisemitischen Hintergrund vieler Nazi-Gegner in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu dokumentieren, ist richtig, weil sie dem Anspruch auf historische Wahrhaftigkeit dient. Nicht um das von manchen linken Kreisen gepflegte überhebliche Nachtreten gegen die konservativen Widerständler geht es. Viel zu unterschiedlich waren die Motive der Männer und Frauen, unter Einsatz des eigenen Lebens das Nazi-Regime zu beseitigen. Die Widersprüchlichkeit der Akteure und ihrer Haltung zu den Juden darzustellen, darin liegt die Chance, dem Versuch einer bundesdeutschen Heroenfindung entgegenzuwirken. So könnte die Diskussion um den 20. Juli, um deutsche Geschichte von der Instrumentalisierung befreit werden. Severin Weiland