Lachen, Scharren

Theodeor W. Adornos Vorlesungen zur „Einleitung in die Soziologie“ vom Tonband abgeschrieben  ■ Von Rüdiger Zill

„Meine Damen und Herren, ich bitte die Verspätung zu entschuldigen. Ich habe, genau wie wahrscheinlich viele von ihnen, draußen vergebens auf das Glockenzeichen gewartet. Es scheint wieder einmal alles mögliche nicht zu funktionieren. Ich habe den Eindruck, daß auch etwas hier mit der Lautsprecheranlage nicht klappt, und ich habe weiter den Eindruck, daß die Klimaanlage nicht klappt – aber sonst ist alles in bester Ordnung.“

Der Frankfurter Sommer des Jahres 1968 muß ähnlich heiß gewesen sein wie der diesjährige. Von Ozon-Belastung war allerdings noch nicht die Rede. Die Natur übte damals den Widerstand noch – vorerst begnügte sie sich damit, die Technik, die Mittel ihrer Unterdrückung, zu sabotieren.

Theodor W. Adorno, der sich hier am Beginn seiner zehnten Vorlesung zur „Einleitung in die Soziologie“ ironisierend über das Versagen der Geräte beschwert, war nie ein Technikkritiker im strengen Sinne. Technik wirkte für ihn immer nur im Gesamtzusammenhang des Systems, dessen dominierende Faktoren die ökonomischen waren. In dieser Hinsicht war er viel stärker noch, als das eigentlich mit seiner geschichtsphilosophischen Großkonstruktion verträglich ist, ein traditioneller Marxist. Vielleicht waren also in jenem Juni doch noch ganz andere Kräfte am Werk. Vielleicht sollte das Ausbleiben des Klingelzeichens ja die systemkritische Vorlesung bewußt hintertreiben.

Das zumindest mißlang. Und daß wir auch heute noch davon wissen, ist dem Theodor W. Adorno Archiv zu verdanken, das nun, einige Jahre nach dem Abschluß der „Gesammelten Schriften“, mit der Publikation des Nachlasses begonnen hat. Ein Motiv, gerade mit der letzten der insgesamt fünfzehn erhaltenen Vorlesungen zu beginnen, die Adorno im Sommersemester 1968 gehalten hat, war – so die Herausgeber – die Tatsache, daß von ihr als einziger auch noch die Tonbandmitschnitte vorhanden sind. So hatte man die Möglichkeit, eine sogenannte wörtlich-diplomatische Wiedergabe des Gesagten zu präsentieren. Wir lesen auch alle einleitenden Bemerkungen über das Wetter, die instituts- oder gesamtpolitische Situation, finden wie bei Bundestagsreden die Publikumsreaktionen, – Lachen, Zischen, Scharren –, vermerkt, stolpern sogar über Versprecher, zumindest insofern sie die Struktur des Vortrags beeinflussen.

Man hat dies Vorgehen als Heiligenverehrung bezeichnet, sogar von dem Gesamtprojekt als dem Ergebnis der „auf restlose Vollständigkeit erpichten Energie einer alexandrinischen Erbverwaltung“ gesprochen. Wäre es aber nicht vielmehr zu wünschen, daß die möglichst weitgehende Nachlaßedition noch schneller geschähe? Nicht weil man dann, versonnen unter einer kleinen Adorno-Ikone sitzend, über die sakrosankten Worte eines kanonisierten Klassikers meditieren könnte. Ganz im Gegenteil: Es sind doch gerade die geschlossenen oder schwer zugänglichen Archive, von denen eine mythisierende Wirkung ausgeht.

Im Falle von Adornos Soziologie-Vorlesung wirkt sogar das Verfahren der diplomatischen Umschrift selbst entauratisierend. Denn entgegen der Intention der Herausgeber, die bewahren wollen, „was anders unrettbar verloren wäre: einen lebendigen Eindruck von Adornos Kolleg“, wirkt der Text eher distanzierend. Denn der vorliegende Text hat weder die Kraft der Situation, die immer nur aus dem Zusammenspiel von Redner und Publikum resultiert, noch die des geschriebenen Textes, der seine Aura aus der sprachlichen Durcharbeitung erhält. Adorno, Meister geschliffener Sentenzen, denen auch immer ein gewisser Imponiergestus eignet, erscheint hier in menschlichem Maß: ein höflich-bescheidener älterer Herr, sehr diskursiv und nachdenklich.

Adorno war sich der Schere von gesprochenem und geschriebenem Wort selbst durchaus bewußt und hat daher, Verantwortung für ihren Inhalt ablehnend, Vorträge immer nur contre coeur veröffentlicht. Die Tonbandaufnahme war ihm „der Fingerabdruck des lebendigen Geistes“, ein weiterer Ausdruck der verwalteten Welt. Oder wie es im Kriminalfilm heißt: Alles was gesagt wird, kann gegen Sie verwendet werden. In dieser Abneigung Adornos zeigt sich eine uralte philosophische Phobie. Schon Platon begründete seine generelle Schriftkritik ähnlich: Das verfestigte Wort treibe sich überall in der Welt herum wie ein dem Vater entlaufener Sohn, sei selbst schutzlos, weil es sich nicht wehren, das heißt bei Mißverständnissen nicht selbst erklären könne. Die Analogie von Vater- und Autorschaft ist aber mehr als ein Gleichnis. Platons prägende Erfahrung war die Hinrichtung des Sokrates. Die Begründung dieses Justizmordes hieß: Verführung der Jugend. Ganz so, wie auch die Theoretiker der Frankfurter Schule als geistige Väter des Terrorismus denunziert worden sind.

Da Adorno aber nicht den geschriebenen Text schlechthin verurteilt, sondern nur die Fixierung des Gesprochenen, muß er eine flankierende Begründung finden. So meint er, daß es dem mündlich Improvisierten vor allem am Detail und am konzisen Beleg fehle; es müsse vielmehr immer dogmatische Behauptung von Resultaten bleiben.

Zumindest aber für die „Einleitung in die Soziologie“ ist mit solchen Mängeln nicht zu rechnen. Denn sie enthält nichts wesentlich Neues, nichts, was nicht andernorts, in von Adorno selbst zum Druck gegebenen Texten, zumindest die Chance einer detaillierten Begründung gehabt hätte. Sie ist ganz unter dem Eindruck des wissenschaftlichen Tagesgeschehens entstanden, und das heißt: Sie ist durch und durch dem Positivismusstreit verhaftet. Darin unterscheidet sich diese Einleitung etwa von der – sieht man von Raubdrucken ab – einzigen, vor Jahren schon einmal vorab veröffentlichten Vorlesung, der „Philosophischen Terminologie“, die viel systematischer, viel dichter auch an der verhandelten Sache ist.

Dafür spürt man in den Zeilen der „Einleitung“ die Erregung und die unmittelbare Verfangenheit Adornos in der aktuellen Situation des Positivismusstreits, eine Erregung, die man 25 Jahre später so wohl nicht mehr teilt. Der Positivismus ist inzwischen vielmehr selbst zum Gegenstand historischer Darstellungen geworden. Der Streit ist verebbt, ohne daß ein Problem durch ihn gelöst worden wäre und ohne daß eine Seite „gesiegt“ hätte. In der Praxis haben beide Seiten ihren Platz gefunden. In der theoretischen Auseinandersetzung sind die Positionen in einem seltsamen Winkel verschoben und lassen sich nicht mehr unmittelbar auf die vorangegangenen abbilden. Die Metaphysikkritiker von heute sind Dekonstruktivisten oder Pragmatisten, wobei sich im Pragmatismus eines Rorty etwa eine Umstülpung des positivistischen Standpunkts zeigt. Wie Adorno von der „Sache selbst“ oder von Wesen und Erscheinung zu reden ist ausgesprochen unpopulär geworden. Dennoch sind die Fragestellungen, die unter dieser Perspektive entstanden sind – so die nach der Vermitteltheit des Gesamtzusammenhangs oder die nach der Möglichkeit sinnvoller interdisziplinärer Forschung – fruchtbarer als die ihrer Kritiker.

Theodor W. Adorno: „Einleitung in die Soziologie“. Hrsg. v. Christoph Gödde, Suhrkamp 1993, 68 DM