■ Wachsender Fundamentalismus in den USA: „Lebensschützer“ ermorden Abtreibungsärzte: Die christliche Rechte holt aus
Sie tragen kugelsichere Westen, ändern Adressen und Telefonnummern, nehmen ihre Kinder aus der Schule und lassen ihre Post von Sprengstoffexperten inspizieren. Sie suchen jeden Morgen den Unterboden ihres Autos nach Bomben ab, lassen an ihren Arbeitsplätzen kugelsicheres Glas und Überwachungskameras installieren. Und seit letzter Woche stehen nicht nur lokale Polizisten Wache, sondern, auf Anweisung der amerikanischen Justizministerin, auch die „US-Marshalls“.
Nein, nicht von Belastungszeugen in einem Mafiaprozeß ist hier die Rede, sondern von Ärzten. Genauer gesagt: Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Letzten Freitag wurden in Pensacola im Bundesstaat Florida ein Gynäkologe und ein Begleiter von einem Abtreibungsgegner ermordet – in ebenjener Stadt, in der siebzehn Monate zuvor der Arzt David Gunn vor einer Frauenklinik erschossen worden war.
Bei allem Schock über den religiösen Fanatismus und die unerträgliche Bigotterie, mit der sich die Mörder und ihre Anhänger nach vollbrachter Tat immer noch als „Lebensschützer“ ausgeben – überraschend ist die Eskalation der Gewalt nicht. Sie folgt einer ebenso perfiden wie erfolgreichen Logik der Abtreibungsgegner: Selbst der fortschrittlichste Präsident im Weißen Haus und das liberalste Verfassungsgericht können das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nicht gewährleisten, wenn keine Ärzte mehr da sind, die Abtreibungen durchführen.
Gewalt gegen Menschen gehört nicht explizit zum Kalkül, aber sie wird in Kauf genommen. Wenn protestantische Fundamentalisten Ärzte mit Namen und Privatanschrift als „Babykiller“ auf Steckbriefen suchen lassen; wenn katholische Fundamentalisten – wie der Papst bei seinem letzten USA-Besuch – Abtreibung mit dem Genozid in Bosnien gleichsetzen; wenn die Führer der Anti-Abtreibungs-Organisationen auf ihren Koordinationstreffen ganz offen die Legitimität von Gewalt gegen Personen diskutieren: dann glaubt selbst der Dümmste nicht mehr, daß die Täter von Pensacola ausgeflippte Einzelgänger sind.
Die Strategie der Abtreibungsgegner legt eine katastrophale Fehleinschätzung der liberalen Öffentlichkeit in den USA bloß: Zwei Clintons im Weißen Haus können eben nicht das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und andere Grundrechte garantieren. Denn Abtreibung ist nur ein Punkt auf der christlich- fundamentalistischen Agenda. Dazu gehören auch der Kampf gegen Homosexuelle, gegen sexuelle Aufklärung von Jugendlichen, für Schulgebete und die Einführung der Schöpfungslehre in den Biologieunterricht. Der gesellschaftliche und politische Grundsatzkonflikt, der in Deutschland entlang der Kategorien „Staatsbürgerschaft“ und „Ethnizität“ verläuft, wird in den USA derzeit auf der Ebene der Sexualmoral, der Definition der Geschlechterrollen und der Infragestellung des säkularen Staates ausgefochten.
Das Bedrohliche daran ist der Grad der gesellschaftlichen Mobilisierung auf der einen, der Grad der Passivität auf der anderen Seite: Wenn es derzeit in den USA eine – im wertfreien Sinne – „soziale Bewegung“ gibt, dann ist es die christlich-fundamentalistische, deren wachsender Einfluß demnächst die konservative „Republikanische Partei“ vor eine neue, größere Zerreißprobe stellen wird.
Wer aber nach dem Doppelmord von Pensacola auf eine größere Demonstration seitens der Frauenorganisationen, der Bürgerrechtsgruppen, liberaler Kirchen, des Ärztestandes, der Schwulen- und Lesbenorganisationen, der progressiven Elterngruppen und Lehrergewerkschaften gewartet hatte, der hoffte vergebens. Die christliche Rechte hat eine gemeinsame Ideologie und Strategie. Alles, was links davon steht, hat (noch) nicht einmal eine Telefonliste. Andrea Böhm, Washington
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