: Dumping ist relativ
Europäische Stahlfirmen wehren sich gegen die Konkurrenz aus Osteuropa / Sind die niedrigeren Preise der Ostler tatsächlich unfair? ■ Aus Brüssel Alois Berger
Brüssel (taz) – Die Stahlbosse wollen ihre Mauer wiederhaben. Der Dachverband der europäischen Stahlhersteller „Eurofer“ will in Brüssel Klage gegen die tschechische und ungarische Konkurrenz einreichen. Der Vorwurf: Die Hersteller aus den beiden Ländern würden sich unfairer Handelspraktiken bedienen und gegen die Antidumping-Regeln verstoßen. Als Beleg führt Eurofer an, daß die tschechische und ungarische Konkurrenz Baustahl fast um die Hälfte billiger anbietet als in der EU üblich. Innerhalb von nur sechs Monaten hätten allein die Tschechen ihren Marktanteil in den Ländern der Europäischen Union von 5 auf 18 Prozent gesteigert. Dadurch entstehe den europäischen Stahlbetrieben ein jährlicher Schaden von 320 Millionen Mark. Dumping ist selten eindeutig. Nach den Regeln des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt), die sich auch die Europäische Union auf die Fahne geschrieben hat, macht sich des Dumpings schuldig, wer Waren unter dem „normalen Wert“ auf den Markt bringt. Als normal gilt dabei entweder der Herstellungspreis oder der Heimatpreis.
Ob Ungarn und Tschechen ihren Stahl im Ausland wesentlich billiger verkaufen als im eigenen Land, dürfte relativ schnell nachprüfbar sein. Wahrscheinlicher ist ein Streit um den Herstellungspreis. Doch kann auch Eurofer nicht entgangen sein, daß die Lohnkosten in den Ländern Mittel- und Osteuropas niedriger sind als in der EU.
Mit freiem Markt haben die Anti-Dumping-Regeln nicht viel zu tun, mehr mit dem Recht des Stärkeren. Betriebswirtschaftlich kann es sinnvoll und kostendeckend sein, auf Teilmärkten niedrigere Preise anzubieten. Das ist üblich. Deutsche Autos kosten in den USA wesentlich weniger als zu Hause, und wenn die Pharmaindustrie ihre Pillen in Indonesien zum selben Preis wie in der Berliner Bahnhofsapotheke anbieten würde, bliebe sie darauf sitzen. Von den europäischen Agrarexporten in die Dritte Welt schweigen wir heute ausnahmsweise.
Für die Europäische Kommission ist die Prüfung des Dumping- Vorwurfes eine Art Gewissensfrage. Denn Maßnahmen gegen Ungarn und die Tschechische Republik, wie sie Eurofer fordert, würden die von der Kommission angestrebte Verbesserung der Handelsbeziehungen mit eben diesen Ländern nicht fördern. Schließlich sollen die mittel- und osteuropäischen Staaten durch Zusammenarbeit an das Wirtschaftssystem der Europäischen Union herangeführt werden. Aber vielleicht ist es gerade das, was die Stahlherren mit der Klage verzögern wollen.
Die Öffnung der Märkte im Osten nützte bisher vor allem der westlichen Konsumindustrie. Leidtragende dagegen ist die ohnehin gebeutelte Schwerindustrie, weil dort die ehemaligen Staatshandelsländer über große und konkurrenzfähige Unternehmen verfügen. Aber wenn die mittel- und osteuropäischen Länder im Westen nichts verkaufen können, werden sie zum Einkaufen bald kein Geld mehr haben.
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