Ein Radio, das 17 Sprachen spricht

Babylon im Äther: Als erste Rundfunkanstalt Europas startet der SFB eigenes Multi-Kulti-Radio / Akustischer Spagat zwischen den Kulturen war monatelang umstritten  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Das Votum war so einstimmig, als sei das Beschlossene das Selbstverständlichste von der Welt. Dabei hatten die versammelten Rundfunkratsmitglieder des Senders Freies Berlin (SFB) die Hand gerade für eine monatelang umstrittene Sache gehoben – eine Sache, die so wenig selbstverständlich ist, daß sie europaweit einmalig ist: Ab Mitte September wird der SFB als bisher einzige Rundfunkanstalt mit einem eigenen multikulturellen Radioprogramm auf Sendung gehen.

24 Stunden am Tag wird die neue Welle auf UKW 106,8 rund um den Globus kreisen und dabei vor allem die rund 400.000 in Berlin lebenden AusländerInnen an die Lautsprecher locken. Eine öffentlich-rechtliche Geste an die bislang nur mit spärlichen „Gastarbeiter“-Programmen bediente gebührenzahlende Minderheit, mediale Widerspiegelung eines Landes, das längst einen – nicht immer konfliktfreien – babylonischen Alltag lebt. Ein Versuch auch, eine akustische Klammer zu schaffen zwischen den deutschen Berlinern und ihrer Vielvölkernachbarschaft.

Noch gibt SFB-Intendant von Lojewski (CSU-nah) nur häppchenweise die Mosaiksteine der Programmstruktur preis: Insgesamt 17 Sprachen werden auf „Radio Multi-Kulti“ (Arbeitstitel) zu hören sein, doch die gemeinsame „Verständigungssprache“ ist Deutsch mit verschiedensten Akzenten. Von sechs Uhr morgens bis in den späten Nachmittag wird die Welle zwar in deutscher Sprache senden, aber nicht mit deutschem Zungenschlag. Zu jeder vollen Stunde, so Multi-Kulti-Wellenchef Friedrich Voß, wird es Nachrichten geben – angereichert durch die Weltnachrichten von BBC und Informationen aus den Hauptherkunftsländern der Berliner Migranten. Herzstücke des Programms: ein einstündiges Forum der Verständigung jeden Tag, in dem sich Hörer aller Nationalitäten über Fremdes und Gemeinsames, Identität und Heimatlosigkeit, über Gott (Allah, Buddha ...) und die Welt unterhalten. Herzstück Nummer zwei: eine einstündige tägliche Jugendsendung, die in enger Zusammenarbeit mit ausländischen Jugendgruppen und Schulen gestaltet wird.

Ab 17 Uhr beginnt dann Radio Babylonia, ein Sprachgemisch: eine Stunde täglich türkisches Programm, eine Stunde in den Sprachen Ex-Jugoslawiens, jeweils zwanzig Minuten für die russischen, polnischen, arabischen und kurdischen Minderheiten. Einmal im Monat werden auch die Vietnamesen, die Roma und Sinti und die Albaner mit Tips und Informationen akustisch bedient. Das alles ohne Werbung und ohne die allgegenwärtige anglo-amerikanische Rock- und Popmusik. Statt dessen: Reggae, Salsa, westafrikanischen Rhythmen, asiatische Klänge oder türkische Hits.

Ein schwieriger Spagat zwischen verschiedenen Zielgruppen und Interessen. Im Zeitalter der Jagd nach Einschaltquoten wäre das Experiment wohl bloß spinnerte Utopie – wenn es nicht unter dem Dach einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt professionell ausgetüftelt und institutionell abgesichert wäre. Überrascht von der eigenen Waghalsigkeit, steht der sonst so behäbig-konservative SFB nun wie ein Artist vor dem Hochseilakt: stolz entschlossen, diesen Versuch zu wagen, gleichzeitig um Normalität bemüht: „Das wird keine experimentelle Exotennummer“, stellt Hörfunkchef Jens Wendland klar. „Wir wollen zeigen, daß wir es für selbstverständlich halten, ein solches Programm zu machen in einer Stadt, wo immerhin 10 Prozent der Rundfunkgebührenzahler Ausländer sind“.

Selbstverständlich – schön wär's. Immerhin leben die ARD-Anstalten schon lange und gut mit den Gebühren der ImmigrantInnen – ohne sonderlich schlechtes Gewissen gegenüber der nichtdeutschen Hörerschaft. Und auch der SFB selbst mußte zum Jagen getragen werden: Vor über einem Jahr brachten die Berliner Grünen erstmals einen Antrag für eine Multi- Kulti-Welle in die Gremien des Senders ein – und scheiterten mit ihrem Konzept. In monatelanger Arbeit wurde dann ein Kompromiß gestrickt, der dem SFB die volle Prgrammhoheit überträgt. Doch auch dann gab es zahllose Verhinderungsargumente in der CDU-dominierten Chefetage des Senders und im Rundfunkrat: kein Geld, kein Personal, keine Kontrollmöglichkeit für die fremdsprachigen Programmteile. Die Idee drohte gerade zu versanden, als sie – so makaber es klingt – durch den Anschlag von Solingen plötzlichen und ungeahnten Zuspruch erhielt. „In diesen Zeiten traute sich niemand, das Projekt abzulehnen“, meint dazu Alice Ströver, grüne Rundfunkrätin und engagierte Verfechterin des Multi-Kulti-Radios, „ohne die Welle von Ausländerfeindlichkeit wäre das nie zustande gekommen.“

Als dann die Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB) eine Frequenz freigab und zwei Millionen Mark für eine 18monatige Versuchsphase beisteuerte, war der Weg frei. Seitdem beäugen die anderen ARD-Anstalten voller Neugier, was die Kollegen in Berlin da in enger Zusammenarbeit mit dem Kooperationspartner „Haus der Kulturen der Welt“ und mit ausländischen Gruppen, Institutionen und Persönlichkeiten konzipieren. Am 18. September wird „Radio Multi-Kulti“ mit einem großen Fest erstmals in den Äther rauschen. „Ein Massenprogramm wird das nicht“, das wissen Wellenchef Friedrich Voß und seine Mitarbeiter selbst. Ein „Quotenkiller“ aber ganz gewiß auch nicht. Denn der Bedarf ist groß und die Konkurrenz gleich Null.