■ Stadtmitte: Eine Zeitung mit Obdachlosen
Aufgeregt sprachen mich in den letzten Tagen Verkäufer unserer Obdachlosenzeit HAZ (Hunnis Allgemeine Zeitung) an. Leser meinten beim Kauf: „Ich hörte im Radio, Ihr seid schon pleite.“ Warum erzählen die Journalisten so etwas, fragen die obdachlosen Verkäufer mal wütend, mal resigniert. Keiner von ihnen reagierte clever genug und fragte nach Sender und Sendezeit. Verständlich, Recherche gehört nicht zum Handwerk der Straße. Menschen, die auf der Straße leben, glauben schnell, was sie bedroht.
Klar ist: zwei Obdachlosenzeitungen, mob und Platte, kämpfen mit finanziellen Schwierigkeiten. Dahinter verbergen sich sinkende Verkaufszahlen im Sommer, mit denen alle Projekte dieser Art – auch in Hamburg und Paris – zu kämpfen haben. Die Affenhitze verleitet nicht gerade zum Zeitunglesen. Jeder hat mit sich selber zu tun. Der Urlaub wird herbeigesehnt.
Die meisten glauben, im Sommer geht es den Obdachlosen sowieso besser. Das Straßenbild scheint dem recht zu geben. Obdachlose fallen jetzt weniger auf. Kurze, zerrissene Jeans trägt jeder, auf den Wiesen erholen sich alle, die Zeit dazu haben. Erfrieren kann keiner. Aber dieser Schein trügt. Der Sommer bringt den Obdachlosen vor allem psychische Belastungen. Kommen dann noch Schwierigkeiten innerhalb der Zeitungsprojekte hinzu, können selbst gutgemeinte Rundfunkmeldungen demoralisieren.
Diese Geburtswehen aller Obdachlosenzeitungen Berlins wurzeln im Charakter dieser Projekte, weniger in der Zahl der Zeitungen. Auf Berlins Straßen leben leider inzwischen so viele Menschen ohne ein Dach über dem Kopf, daß die Stadt mühelos mehrere Zeitungen verträgt. Unterschiedliches redaktionelles Profil bietet den Bürgern sogar die Chance, sich mit der ganzen Bandbreite dieses Skandals aus verschiedenen Blickwinkeln vertraut zu machen.
An einer Frage jedoch kommt keine dieser Zeitungen vorbei: Machen wir eine Zeitung für Obdachlose – dann sieht man sie vor allem als Verkäufer und die Zeitung als Instrument, eine Einnahme zu ermöglichen –, oder machen wir die Zeitung mit Obdachlosen. Letzteres bedeutet Mitspracherecht der Unbehausten in redaktionellen und allen anderen Fragen. Das gelingt, wenn hinter der Zeitung ein Projekt steht, zum Beispiel eine Wärmestube, das selbstverwalteter Anlaufpunkt und ein Stück „Zuhause“ für Obdachlose ist.
So hatte es in Hamburg begonnen, so arbeitet Zeitdruck in Berlin, daran arbeitet die HAZ, diesen Weg geht auch Platte. Am klarsten brach dieser Grundkonflikt für jede Obdachlosenzeitung in der Entwicklung von mob auf. Die Verkäufer besetzten die Redaktion, um Mitspracherechte zu fordern. Sie wurden von der Polizei im Auftrag des Herausgebers geräumt. Der entstandene Schaden war groß, das Mißtrauen nicht mehr zu beseitigen. Jetzt zog sich der frühere Herausgeber BIN e.V. von der Zeitung zurück. Obdachlose, Redakteure und andere Interessierte gründeten in der vergangenen Woche einen eigenen Trägerverein, der die Zeitung weiterführen wird. Jede Obdachlosenzeitung lebt von der Identifikation der Betroffenen mit diesem Projekt. Das um so mehr, als keine dieser Zeitungen handelsübliche Marketingwege beschreiten kann. Geld fehlt dafür sowieso, und selbst wenn mehr Geld zur Verfügung stünde, müßte es nach dem Selbstverständnis dieser Zeitungen in Obdachlosenprojekte fließen.
Differenzierte und einfühlsame Berichterstattung über diese Zeitungen in anderen Medien wäre ein hilfreiches Marketing. Dann wäre allerdings mehr zu sagen als die kommerzielle Beurteilung, Obdachlosenzeitungen seien in finanziellen Schwierigkeiten. Die Aufregung der HAZ- Verkäufer ist vor diesem Hintergrund mehr als berechtigt. Eigentlich nehme ich diese Aufregung auch als positives Zeichen, als beginnende Identifikation mit diesem Projekt, die jedoch Zeit braucht und nicht ohne Konflikte laufen kann. Sonja Kemnitz
Die Autorin ist Redakteurin bei der Obdachlosenzeitung „HAZ“
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