Schocksyndrom nach Polizeiübergriff

Syrerin in Behandlung beim Folterzentrum / amnesty international spricht im Jahresbericht 1993 von „vorsätzlichen Mißhandlungen“ der Polizei / Innenverwaltung: „Zahlenspielerei“  ■ Von Dorothee Winden

Als Fatima S. auf das Klopfen und Klingeln an der Tür nicht reagiert, treten die drei Polizisten kurzerhand die Tür ein. Die 21jährige Syrerin, die kaum Deutsch versteht, wird von der auf sie herabstürzenden Tür zu Boden gerissen. Das nächste, was sie wahrnimmt, sind drei Pistolen, die auf sie gerichtet sind. So schilderte ihr Ehemann den Vorfall, der sich Mitte März ereignete, gegenüber der taz. Weil das Haus im Wedding saniert wird und sie die einzigen verbliebenen Mieter waren, hatte er seine Frau instruiert, in seiner Abwesenheit niemandem die Tür aufzumachen. „Sie dachte zuerst, es seien Einbrecher. Sie hat geschrien und war fast bewußtlos vor Schreck. Unser vier Monate alter Säugling schrie im Nebenzimmer, aber sie haben sie nicht zu ihrem Kind gelassen. Ein Polizist hat sie ins Schlafzimmer gesperrt. Dann haben sie, obwohl sie keinen Durchsuchungsbefehl hatten, die Wohnung durchsucht“, berichtet der Ehemann. Dabei sollten die Polizisten lediglich im Auftrag der Ausländerbehörde den Paß der Ehefrau überprüfen. Weil ein ausländischer Student nicht das Recht hat, seine Ehefrau nachzuholen, gab es aufenthaltsrechtliche Probleme. „Dabei wollen wir Deutschland sowieso verlassen, sobald ich im Herbst mein Aufbaustudium beendet habe“, sagt Hassan S.

Ein Arzt stellt bei Fatima S. ein psychisches Schocksyndrom fest, außerdem eine reaktive Depression, eine nervöse Magenschleimhautentzündung sowie Prellungen der Wirbelsäule und der Rippen. „Sie hat sich seitdem völlig verändert“, sagt ihr Mann. „Früher war sie eine fröhliche junge Frau. Jetzt zieht sie sich zurück, und immer, wenn es an der Tür klingelt, zittert sie am ganzen Körper.“ Mittlerweile werde sie im Zentrum für Folteropfer behandelt und mache dort eine Psychotherapie. Die Anzeige ihres Ehemannes quittierte die Polizei Mitte Juni mit einer Gegenanzeige, in der er der „falschen Verdächtigung und Beleidigung“ bezichtigt wird.

In einem weiteren Fall von polizeilichen Übergriffen auf Ausländer, den sowohl SOS Rassismus als auch die Liga für Menschenrechte dokumentiert haben, wurde ein 17jähriger Türke mit deutschem Paß mißhandelt. Zwei Zivilpolizisten, die ihn nachts beim Graffiti- Sprayen erwischten, nahmen ihn gewaltsam fest. Einer schlug ihm mit den Fäusten in die Nieren und ins Gesicht. Der andere trat ihn auf den Hinterkopf. Dabei verlor der Jugendliche zwei Schneidezähne und schürfte sich das Gesicht auf. Ein Polizist brach ihm bei der Festnahme außerdem einen Finger, der trotz einer Operation nie wieder voll beweglich sein wird. Der Jugendliche habe ihr glaubhaft versichert, keinen Widerstand geleistet zu haben, berichtet Liga- Mitarbeiterin Yvonne Bearne. Zuerst habe er zwar geglaubt, bei den Zivilpolizisten handle es sich um Jugendliche, die Streit suchten, und sei weggelaufen, aber nachdem sie zweimal „Stehenbleiben, Polizei!“ gerufen hätten, habe er sich gestellt.

In den vergangenen 18 Monaten hat die Liga für Menschenrechte etwa 20 solcher Fälle dokumentiert. Da nur Fälle registriert werden, in denen sich die Opfer bei der Organisation melden, ist dies nur die Spitze des Eisbergs. Das zuständige Kripo-Kommissariat für Amtsdelikte nahm allein von Januar bis Juli diesen Jahres 421 Anzeigen wegen Körperverletzung im Dienst entgegen. 106 davon betrafen Ausländer, erläuterte Kommissariatsleiter Horst Klemmer. Da darin die 22 von dem deutsch- vietnamesischen Verein „Reistrommel“ dokumentierten Übergriffe enthalten sind, seien Ausländer mit 25 Prozent der Fälle diesmal überproportional betroffen. Sonst betrage der Anteil der Ausländer, die Mißhandlungen anzeigen, zwischen 15 und 20 Prozent.

Im Anfang Juli veröffentlichten Jahresbericht 1993 von amnesty international (ai) kommt die Berliner Polizei schlecht weg. Für das Jahr 1993 erhielt ai aus Deutschland „deutlich mehr Berichte über Mißhandlungen durch Polizeibeamte“. Insgesamt 40 Fälle hat ai in den vergangenen anderthalb Jahren aufgelistet, davon ereignete sich die Hälfte in Berlin, so der Deutschland-Ermittler Michael Butler in der Londoner ai-Zentrale. Auch ai erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Registriert werden Fälle nur, wenn neben dem Bericht des Opfers eine Anzeige und ein ärztliches Attest vorliegen und möglichst Zeugen genannt werden können. „Es handelt sich aber nicht um vereinzelte Fälle“, widerspricht Butler der Polizei-Version der einzelnen „schwarzen Schafe“. „Da ähnliche Fälle immer wieder vorkommen, sprechen wir von einem Muster der Mißhandlung.“ Bei den Fällen, derer sich ai annehme, handle es sich um „vorsätzliche Mißhandlungen“, bei denen es häufig zu „exzessiver Gewaltanwendung“ gekommen sei. In den meisten Vorfällen, die ai aufgegriffen hat, würden die Untersuchungen noch andauern. „Es ist nicht ungewöhnlich, daß sich die Ermittlungen bis zu einem Jahr hinziehen“, stellt Butler fest.

Kommissariatsleiter Klemmer macht dafür vor allem die Betroffenen verantwortlich: „30 bis 50 Prozent der Geschädigten folgen der ersten Vorladung nicht.“ Auch der zweiten blieben viele fern. Klemmer führt das darauf zurück, daß 95 Prozent der Betroffenen zum Zeitpunkt des Vorfalls alkoholisiert gewesen seien, Deutsche gleichermaßen wie Ausländer. „Die wissen dann oft nicht mehr genau, was los war.“ Zudem gingen den Vorfällen in 90 Prozent der Fälle Straftaten der Betroffenen voraus, wie beispielsweise das Verkaufen geschmuggelter Zigaretten. Dafür, daß manche den Weg in die Behörde scheuen, von der sie sich mißhandelt fühlen, „bringt“ er „Verständnis auf“. Aber daß dies ein Grund sein könnte, warum so viele der Anhörung fernbleiben, glaubt er nicht. Auf Wunsch sei eine Anhörung auch in neutralen Räumlichkeiten möglich.

Mangels Zeugen läßt sich den Tätern in Uniform nur selten etwas nachweisen. Von den 452 Anzeigen, die von Januar bis August 1993 verzeichnet wurden, ist bisher nur einmal Anklage erhoben worden. Dabei handelt es sich um einen Iraner, der im Dezember 1992 von einem Busfahrer tätlich angegriffen wurde und bei seiner Verhaftung durch Polizeibeamte mißhandelt wurde. Im Februar diesen Jahres wurden vier Beamte wegen Körperverletzung und Beleidigung angeklagt. In einem anderen Fall wurde ein disziplinarrechtliches Verfahren gegen einen Polizisten eingeleitet. 24 Verfahren stellte die Staatsanwaltschaft ein, in 68 Verfahren steht eine Entscheidung noch aus.

Beim Innensenator mißt man den ai-Zahlen „keine absolute Aussagefähigkeit“ zu. „Das ist Zahlenspielerei“, sagt Pressesprecher Norbert Schmidt. „Solche Zahlen müssen ins Verhältnis gesetzt werden zu dem, was gerichtsnotorisch wird.“ Weniger als zehn Prozent der Fälle endeten vor Gericht. Daß Berlin in der ai-Statistik hervorsteche, erklärt sich Schmidt auch damit, daß es in Berlin besonders viele Anlaufstellen für Ausländer gebe und Übergriffe entsprechend häufiger zur Anzeige gebracht würden. Schmidt versichert, in der polizeilichen Ausbildung würden Werte wie „Toleranz, Rücksicht und Verständnis eingeübt“. Doch zuweilen scheint das wenig zu fruchten. Denn er fügt an: „Ich kann nie ausschließen, daß mir hier und da einer über die Stränge schlägt.“