■ Zur Aids-Konferenz in Japan: Doppelmoral auf asiatisch
Wenn die Wortführer der pazifischen Hemisphäre auf ihr Lieblingsthema von den „asiatischen Werten“ zu sprechen kommen, geraten sie – und mit ihnen viele westliche Bewunderer Asiens – leicht ins Schwärmen. Lee Kuan Yew, der alte Premierministers Singapurs, verteidigt dann offen die konfuzianistischen Familientugenden, Autoritätsgehorsam und Treue, und wendet sich angewidert vom dekadenten Westen ab. Sein Gefolgsmann Tommy Koh, ein ehemaliger Botschafter Singapurs in den USA, der sich heute als gesellschaftstheoretischen Vordenker des asiatischen Wirtschaftsbooms feiern läßt, erkennt in den „asiatischen Werten“ gleich alles zusammen: den Glauben an Familie, Sauberkeit, strenge Erziehung, harte Arbeit und hohe Sparraten. Für was vor allem das boomende Ostasien rund um die Achse Tokio–Bangkok sonst noch herhalten muß, nämlich: Mädchenhandel, Prostitution, Drogen und Armut, erscheint den östlichen Schöndenkern unbedeutend. Ihnen geht es schließlich nicht um Randgruppen, Einzelschicksale und Menschenrechte. Sie erkennen in der sozialen Kohäsion des bevölkerungsreichsten Kontinents den Schlüssel zur wirtschaftlichen und moralischen Überlegenheit gegenüber dem Westen.
Wie immer man das östliche Gedankengebäude bisher beurteilen mochte, es erschien als eine provokante, historisch berechtigte Antwort auf die vereinnahmenden Ansprüche des Westens. Nach 500 Jahren Agonie im Schatten Europas ließ sich den Machern des asiatischen Wirtschaftswunders ihr Anspruch auf eine neue Moral nicht ohne weiteres absprechen. Allerdings könnte sich das selbstverordnete kulturelle Bewußtsein schnell in eine menschheitsbedrohende Ideologie verwandeln: nämlich im Angesicht der explosiven Aids-Gefahr in Asien.
Keine einzige Regierung der Region, mit Ausnahme von Thailand, hat das Ausmaß der Seuchengefahr bislang erkannt, geschweige denn durchgreifende Vorkehrungsmaßnahmen eingeleitet. Bis ins Jahr 2000 droht die Zahl der HIV-Infektionen allein in Süd- und Südostasien auf 50 Millionen anzuwachsen, in Afrika gäbe es bis dahin möglicherweise 35 Millionen HIV-Fälle. Was passiert, wenn die Epidemie erst das Milliardenvolk Chinas richtig angreift, will derzeit niemand voraussagen. Indessen ist heute bereits klar: ohne umfassende Sexualaufklärung für alle und radikale Veränderungen im Sexualverhalten der Menschen stände Asien am Beginn des 21. Jahrhunderts vor einem fürcherlichen Abgrund.
Die nötige Aids-Aufklärung von unten läuft der Verordnung „asiatischer Werte“ von oben freilich diametral entgegen. Denn im Zentrum sowohl des Konfuzianismus als auch der Aids-Epidemie steht der asiatische Mann und Vater, Hüter einer weitverbreiteten Doppelmoral, die ihm in der Familie alle Autorität beläßt, obwohl er seinen Sexualgelüsten regelmäßig mit einer Prostituierten nachgehen darf. Noch im „verwestlichten“ Japan ist es üblich, daß der Ehemann seinen Abend nicht in der Familie, sondern im Kollegenkreis, d.h. im Dunstkreis der Bars und Bordelle verbringt. In Thailand gehört der Seitensprung im Puff zur Ehrensache des Mannes. Niedrige Scheidungsraten und reger Prostitutionsbetrieb bilden deshalb die zwei Seiten derselben Medaille – basierend auf der in den meisten asiatischen Gesellschaften traditionellen Geschlechtertrennung. Kurzum: Ohne einen Rückgang der Prostitution wird es in Asien auch keine Eindämmung von Aids geben. Der Kontinent braucht neue Männer und eine neue Moral, die derzeit vermutlich nur vom dekadenten Westen kommen kann. Denn ohne das Prinzip der Aufklärung läßt sich Aids einfach nicht bekämpfen. Georg Blume
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